Alle kennen die Redewendung vom „Sack Reis, der in China umgefallen ist“. Damit soll ein Ereignis von besonderer Bedeutungslosigkeit beschrieben werden. Inzwischen ist es aber angebracht, sich zu fragen, ob diese Metapher nicht einer endgültig vergangenen Zeit entstammt. China ist immer noch weit entfernt, aber trotzdem reicht ein flüchtiger Blick in die Tagespresse, um sich davon zu überzeugen, dass an der Beschäftigung mit dem bevölkerungsreichsten Land der Welt offenbar kein Weg mehr vorbeiführt.
Was sind nun die spezifischen Gründe für Kommunistinnen und Kommunisten, der VR China mehr Aufmerksamkeit zu schenken?
Der Aufstieg der Volksrepublik verändert das Weltgefüge in dem Sinne, als dass er die Vormachtstellung der USA-geführten NATO ernsthaft in Frage stellt. Die Hoffnung US-amerikanischer Strategen, nach dem Ende der Sowjetunion zur einzigen wirklichen Weltmacht mit entsprechender Führungsrolle aufzusteigen, ist ins Wanken geraten. Die Zeichen stehen vielmehr auf Entwicklung einer nicht mehr unipolaren Weltordnung, in deren Rahmen China an den USA zumindest in ökonomischer Hinsicht schon bald vorbeiziehen könnte. Dieses wachsende Gewicht befähigt China auf der weltpolitischen Bühne, den aggressiven Bestrebungen des US-Imperialismus entgegenzutreten. Die chinesische Führung tritt ein für internationale Kooperation ohne Einmischung in die innenpolitischen Verhältnisse anderer Staaten und erteilt Hegemoniegelüsten jeglicher Art eine Absage. Das macht die Volksrepublik zum Partner der Kräfte weltweit, die für die friedliche Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen kämpfen.
In Westeuropa ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Sozialismus gleichbedeutend sei mit Mangel und Ineffizienz. Es ist hier nicht der Ort, um die Ursache der ökonomischen Probleme des osteuropäischen Realsozialismus zu betrachten. Dabei kämen viele unterschiedliche Faktoren in Betracht. Unabhängig davon ist aber festzustellen, dass das genannte Pauschalurteil im Falle Chinas gänzlich fehl geht. Wir sehen zum ersten Mal eine Nation, deren wirtschaftliche Kommandohöhen der Staat beherrscht und welche die führenden kapitalistischen Nationen mit ihrer ökonomischen Dynamik das Fürchten lehrt. Die Gleichung Sozialismus = Ineffizienz geht nicht mehr auf.
Dieser Umstand bietet uns eine starke Argumentationshilfe und auch Anregungen, um über eigene Sozialismuskonzeptionen nachzudenken. Sich von Chinas Vorbild inspirieren zu lassen, darf jedoch keinesfalls bedeuten, hier ein universell anwendbares Modell zu sehen. Die chinesischen Genossinnen und Genossen sprechen nicht umsonst vom „Sozialismus chinesischer Prägung“, wohl wissend, dass das Kopieren von Modellen aus fremden, gänzlich anders geprägten Teilen der Welt nicht erfolgreich sein kann. Die Geschichte der KPCh selber bietet hier Beispiele hierfür. Mao Tse Tung hatte sich bereits während des Bürgerkrieges von der bloßen Nachahmung sowjetischer Konzepte gelöst und damit bei Teilen der Partei durchaus Argwohn hervorgerufen. Dennoch gab ihm der Erfolg in Gestalt der Proklamation der Volksrepublik 1949 recht bezüglich seines Anspruches, den Marxismus auf die chinesische Realität anzuwenden. Diese Erfahrung sollte auch heute nicht vergessen werden.
Wenig Beachtung findet die antirassistische Qualität des chinesischen Aufstiegs. Hierzulande spricht man üblicherweise von Rassismus, wenn Individuen Diskriminierung in ihrem persönlichen Alltag erfahren. Dass aber die große Masse der heute hungernden oder an Hunger sterbenden Menschen zum nicht-weißen Teil der Weltbevölkerung gehört und in Asien, Afrika und Lateinamerika konzentriert ist, bringt in Deutschland jedoch kaum jemand mit Rassismus in Verbindung. Bedenken wir nun, dass es China in den letzten 40 Jahren gelang, zwischen 700 und 800 Millionen Menschen aus dem Bereich der absoluten Armut zu holen und damit bisheriger Weltmeister in Sachen Armutsbekämpfung zu werden, so erkennen wir hier eine Emanzipationsleistung, die eine große Signalwirkung für die verelendeten Massen außerhalb Europas und Nordamerikas hat.
Es gibt für uns also gute Gründe, sich mit der VR China zu beschäftigen. Hierbei finden wir bestimmte Problemfelder, die beim dortigen Aufbau des Sozialismus eine Rolle spielen. Drei vom ihnen sollen im Folgenden angerissen werden.
Die Gestaltung der ökonomische Verhältnisse Chinas haben im Westen für viel Irritation gesorgt. Denn dort herrschte und herrscht die Vorstellung, „Sozialismus“ bedeute eine möglichst allumfassende Verstaatlichung von Industrie, Grund und Boden. Der breite Raum, der privater unternehmerischer Tätigkeit durch die Reformen ab 1978 unter der Federführung Deng Xiaopings eingeräumt wurde, begünstigte die Einschätzung, die KPCh habe Kurs genommen auf die Restauration des Kapitalismus. Hierbei unterblieb jedoch die konkrete Analyse des Entwicklungsstandes Chinas. Aufschlussreich hätte eine Rückschau auf die von Lenin konzipierte „Neue Ökonomische Politik“ ab 1921 sein können. Lenin hatte nach den Erfahrungen mit dem vorangegangenen, von administrativem Zwang geprägten „Kriegskommunismus“ eingeschätzt, dass Russland nicht über die Voraussetzungen verfüge, um zu einem entwickelten Sozialismus direkt übergehen zu können. Eine allumfassende Verstaatlichung würde unter diesen Bedingungen nur die gleiche Verteilung von Mangel und Unterentwicklung bedeuten. Russland müsse bei in- uns ausländischen Kapitalisten quasi „in die Lehre gehen“, um sich moderne Technik und Arbeitsorganisation aneignen. Die begrenzte Zulassung privaten Kapitals sah er als Risiko, aber auch als Notwendigkeit. Denn schließlich hatte es in Russland vor der Revolution keine kapitalistische Entwicklung, die der in westlichen Ländern vergleichbar gewesen wäre, gegeben. Diese galt es nun, unter den Bedingungen proletarischer Staatsmacht nachzuholen. In seiner Schrift „Über das Genossenschaftswesen“, benannte er bestimmte Bedingungen: „…die Verfügungsgewalt des Staates über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis des Proletariats mit den vielen Millionen Klein- Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats gegenüber den Bauern…“. Zu diesen Bedingungen erklärte er: „Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu ihrer Erreichung hinreichen und notwendig ist.“
Ganz ähnlich äußerte sich Mao Tse Tung in seiner Schrift „Über die Neue Demokratie“ 1940: „Die staatliche Wirtschaft einer vom Proletariat geleiteten neudemokratischen Republik trägt sozialistischen Charakter, sie ist die führende Kraft der gesamten Volkswirtschaft, doch wird diese Republik das übrige kapitalistische Privateigentum nicht beschlagnahmen, und sie wird auch die Entwicklung der kapitalistischen Produktion nicht untersagen, soweit diese nicht die Lebenshaltung der Nation kontrolliert…“ Bekanntlich wurde diese Orientierung in China im Laufe der Fünfzigerjahre aufgegeben zugunsten eines ultralinken, voluntaristischen Kurses. Im Zeichen des sogenannten „Großen Sprungs nach vorn“ sollten die modernsten kapitalistischen Nationen praktisch voraussetzungslos und nur auf die eigene Kraft gestützt in wenigen Jahren eingeholt werden. Zu diesem Zweck wurde eine radikale Kollektivierung durchgesetzt. In diesem Zuge entstanden Volkskommunen, in deren Rahmen jedem Privateigentum eine scharfe Absage erteilt wurden. In der Partei wurde Funktionäre zum Feind erklärt, die man mit dem Etikett brandmarkte „Machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen“. Die Ergebnisse dieses versuchten Gewaltmarsches zum Sozialismus waren verheerend. Enorme Hungersnöte warfen das Land in seiner Entwicklung zurück. Auch die sich anschließende Kulturrevolution war von dem Versuch gekennzeichnet, fehlende materielle Voraussetzungen durch ideologische Massenmobilisierung zu kompensieren. Hans Heinz Holz sprach in dem Zusammenhang von dem „Versuch, die Entwicklung des Bewusstseins der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse um mehrere Etappen vorauslaufen zu lassen“. Gerade aus marxistischer Sicht springt der Irrtum hier ins Auge.
Mit dem Aufstieg Deng Xiaopings an die Spitze der Partei setzte die Abkehr von dieser Orientierung ein. Dengs Konzept über die Nutzung der Marktmechanismen unter sozialistischer Staatsmacht ist die KPCh bis heute treu geblieben. Ebenso beherzigt werden aber auch die „Vier Grundprinzipien“, welche Deng auf einer Theoriekonferenz am 30. Marz 1979 darlegte:
- Festhalten am sozialistischen Weg
- Beibehaltung der Diktatur des Proletariats
- führende Rolle der KPCh
- Orientierung am Marxismus-Leninismus und den Mao Tse Tung-Ideen
Im Rückgriff auf Lenin wird deutlich, dass der Weg der KPCh keinen Bruch mit den Klassikern des Marxismus-Leninismus darstellt. Viel wichtiger ist aber, dass der Erfolg diesen Weg bestätigt. Im Zeichen dieser Linie wurden die bereits genannten Erfolge in der Armutsbekämpfung möglich. Mao hatte gesagt, dass den Kapitalisten nicht gestatten darf, die Lebenshaltung der Nation zu kontrollieren. Und wenn man heutige Leitmedien der westlichen Welt zu Rate zieht, kann man dort lesen, wie darüber geklagt wird, dass genau dies in China nicht möglich ist. Dennoch ist klar, dass das Privatkapital in China seine eigenen Interessen verfolgt und diese keineswegs identisch mit der sozialistischen Orientierung sind. Ob die Partei Herr über die in diesem Zusammenhang entstehenden Begehrlichkeiten bleibt, ist eine offene Frage. Bislang scheint sie für diese Auseinandersetzung jedoch gut gerüstet.
Eine weitere Frage ist, wie es unter den spezifischen Bedingungen der Volksrepublik China gelingen kann, ein angemessenes Modell von Demokratie zu entwickeln. Der erste Artikel der chinesischen Verfassung lautet: „Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht.“ Liest man diesen Satz aus der Sicht eines westlich geprägten bürgerliche Demokraten, so erscheint er als eine schwer zu überbietender Verrücktheit. Wie kann es eine demokratische Diktatur geben? Um das zu verstehen, muss man das Feld simpler Eindeutigkeiten verlassen und sich dem Denken in Widersprüchen öffnen, das in China durchaus Tradition hat. Zunächst wäre zu klären, was unter Volk verstanden wird. Antwort gibt die chinesische Nationalflagge. Die zeigt neben dem einen großen Stern vier kleinere. Diese symbolisieren die das Volk bildenden vier revolutionären Klassen: Arbeiter, Bauern, Kleinbürger und nationale Bourgeoisie. Letztere ist eine Besonderheit, die sich aus dem antikolonialen Kampf Chinas erklärt. Neben der mit den ausländischen Imperialisten verbündeten Kompradorenbourgeoisie gab es auch bürgerliche Kräfte, die bereit waren, sich dem Kampf für nationale Souveränität anzuschließen. Deren Haltung wurde bei der Gestaltung der Flagge gewürdigt.
Die Volksrepublik verstand und versteht sich also als ein Klassenbündnis. Vorrangiges Ziel dieses Bündnisses bestand darin, das Land aus den barbarischen Kolonialverhältnissen herauszuführen. Es versteht sich von selbst, dass die inneren und äußeren Profiteure dieser Verhältnisse dies nicht zu akzeptieren gewillt waren. Der Bürgerkrieg hatte die Unverträglichkeit dieser beiden Positionen zum Ausdruck gebracht. Und aus der Geschichte ist hinlänglich bekannt, dass auch nach einem gewonnenen Bürgerkrieg und der Proklamation eines Arbeiter– und Bauernstaates der Klassenfeind die Hände nicht in den Schoß legt. Ein Staat wie die VR China ist bei Strafe des Untergangs gezwungen, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Neben die Sphäre demokratischer Willensbildung muss zwingend der Kampf um die Sicherung der eigenen Existenz treten. Und dieser ist naturgemäß auch repressiv. Hier ist nicht der Platz für antiautoritäre und libertäre Fantasien. In seiner Arbeit „Über die demokratische Diktatur des Volkes“ spricht Mao Klartext: „Ihr seid diktatorisch! Liebenswerte Herren, ihr habt recht, gerade das sind wir. Alle Erfahrungen, die das chinesische Volk jahrzehntelang gesammelt hat, lehren uns, die demokratische Diktatur des Volkes durchzusetzen – jedenfalls läuft beides auf ein und dasselbe hinaus -, das heißt, den Reaktionären das Recht auf Meinungsäußerung zu entziehen und nur dem Volk dieses Recht vorzubehalten.“ In seiner spätere Schrift „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke“ beschäftigte Mao sich mit nicht-antagonistischen Widersprüchen, d. h. mit Auseinandersetzungen im Volk auf der Basis grundsätzlich gemeinsamer Interessen und im Gegensatz dazu mit antagonistischen Widersprüchen, d. h. mit solchen, in denen der Kampf zwischen Volk und feindlichen Kräften zum Ausdruck kommt. Mit dieser Differenzierung ist freilich kein unfehlbarer Maßstab gegeben, das eine vom anderen zu unterscheiden. Gerade während der Kulturrevolution mussten verdiente Partei- und Armeeveteranen erleben, dass man in dieser Hinsicht wohl die Orientierung verloren hatte und sie mit unsinnigen Vorwürfen als Konterrevolutionäre anprangerte. Die spätere Korrektur dieses Unrechts ändert nichts daran, dass die Unterscheidung zwischen demokratischer Meinungsäußerung und konterrevolutionärer Tätigkeit eine bleibende und keineswegs einfache Aufgabe ist, zumal beide Positionen auch fließend ineinander übergehen können.
In der Praxis verwirklicht sich die chinesische Demokratie im System der Volkskongresse auf lokaler, regionaler und zentraler Ebene, wobei die lokalen Kongresse direkt und die übergeordneten Körperschaften jeweils von den nächstniedrigeren gewählt werden. Wer für einen lokalen Volkskongress kandidieren will, muss von einer Partei, einer Massenorganisation oder von mehr als 10 wahlberechtigten Personen aufgestellt werden.
Eine Besonderheit Chinas ist die konsultative Demokratie. Mit der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (PKKCV) besteht ein Gremium, in dem die KPCh, die weiteren acht demokratischen Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Religionen und Nationalitäten vertreten sind und an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse beratend teilnehmen.
Aber ebenso finden auch öffentliche Aussprachen zu Gesetzesvorhaben statt. Auf kommunaler Ebene wird mit basisdemokratischen Ansätzen wie dem Modell „Vier Treffen und zwei Veröffentlichungen“ experimentiert. Wenn es um örtliche Belange geht, entwickelt zunächst die Grundorganisation der KPCh des Dorfes Vorschläge. Diese werden bei einem weiteren Treffen von zwei Einwohnerkomitees diskutiert. Die dort erzielten Ergebnisse gehen wieder an die Parteimitglieder zur weiteren Debatte. Beim vierten Treffen erfolgt dann die Abstimmung durch die Vertreterinnen und Vertreter der Dorfbevölkerung.
Dieses eigene Modell von Demokratie wird von der Bevölkerung mehrheitlich positiv angenommen. Eine Studie der Washington Post aus dem Jahre 2020 ermittelte, dass 97 % der chinesischen Bevölkerung mit der Regierung zufrieden seien. Eine Untersuchung der Harvard-Universität zur gleichen Fragestellung wies für den Zeitraum von 2003 bis 2016 einen Anstieg der Zufriedenheit von 86 auf 93 % aus. Dänische Meinungsforscher stellten 2020 fest, dass 73 % der chinesischen Bevölkerung der Meinung waren. in einer Demokratie zu leben. Die entsprechenden Werte für die USA und die BRD waren 49 und 67 %.
Das dritte Problem, um das es hier gehen soll, ist das des nationalen Zusammenhaltes. China ist ein Vielvölkerstaat, in dessen Geschichte sowohl Zeiten der Einheit wie auch der Fragmentierung zu finden sind. Es ist bemerkenswert, dass der Sinologe und Direktor des China Zentrums Tübingen Helwig Schmidt-Glintzer feststellte, es sei nahezu ein Wunder, dass China heute als zusammenhängender Staat existiere. Die Einheit der Volksrepublik ist als keine Selbstverständlichkeit. In Vielvölkerstaaten stellt sich für die einzelnen Ethnien naturgemäß die Frage, ob sie im gesamtstaatlichen Verbund verbleiben oder den Weg der Selbstständigkeit beschreiten wollen. Der chinesische Staat ist also gefragt, allen Nationalitäten attraktive Existenz- und Entwicklungsangebote zu machen. Gleichzeitig muss den kulturellen und religiösen Besonderheiten der einzelnen Volksgruppen Rechnung getragen werden.
Wenn die KPCh nun versucht, den Sozialismus chinesischer Prägung als gemeinsames Haus aller in den Landesgrenzen lebenden Völker zu entwickeln, so kann sie dies aber keineswegs ungestört tun. Den strategischen Köpfen der NATO ist in guter Erinnerung, mit welcher Wirkung die nationalistische bzw. separatistische Karte im Kampf gegen die UdSSR und gegen Jugoslawien gespielt werden konnte. Ihr Verhältnis zu China ist geprägt von einer permanenten Suche nach ethnischen und religiösen Differenzen in diesem Land, die sich möglicherweise zu existenzbedrohenden Rissen ausdehnen lassen. So wird schon seit geraumer Zeit die entmachtete und teilweise ins Exil getriebene buddhistische Geistlichkeit Tibets massiv unterstützt. Bis zum Beginn der demokratischen Reformen in Tibet im Jahre 1959 hatten der Dalai Lama und der von ihm geführte Klerus eines mittelalterlich geprägten Theokratie vorgestanden und über eine Bevölkerung geherrscht, die zum allergrößten Teil aus Sklaven und Leibeigenen bestand. Die chinesische Führung hatte diesen barbarischen Zuständen ein Ende bereitet. Dafür wird sie bis heute im Westen angeklagt, sich an der Freiheit Tibets zu versündigen, dessen Zugehörigkeit zu China in ahistorischer Weise bestritten wird. Eine parasitäre Priesterkaste wird zum legitimen Repräsentanten der tibetischen Bevölkerung aufgewertet. Dies ist begleitet von einem ideologischen Kreuzzug im Namen der Menschenrechte. In Westeuropa fällt diese Propaganda vor allem im grün-alternativen Milieu auf fruchtbaren Boden. Es ist ihr gelungen, in dieser Frage eine gewisse geistige Hegemonie zu erringen. Die Erzählung, dass es sich beim Dalai Lama um einen spirituellen Menschenfreund und Pazifisten handele, welcher der kommunistischen Diktatur gewaltlos die Stirn biete, wird auch in Deutschland nur wenig bezweifelt. Kaum jemand fragt, wie dieses Bild beispielsweise zum Strafsystem unter der Lama-Herrschaft passt, das von grausamen Folterungen und Verstümmelungen geprägt war. Den Exponenten einer solchen Ordnung als Vorkämpfer der Menschrechte zu feiern, ist grotesk und trotzdem nicht ohne öffentliche Wirkung.
Seine Entsprechung findet dieses Vorgehen in der Förderung islamistischer Terroristen in der Provinz Xinjiang. Uigurische Separatisten streben hier die Errichtung eines unabhängigen Gottesstaates an und haben diesem Vorhaben mit zahlreichen verheerenden Terroranschlägen bereits Nachdruck verliehen. Von diesen ist im Westen allerdings weinig oder gar nicht die Rede. Stattdessen wird die chinesische Regierung des Völkermordes an den Uiguren in ihrer Gesamtheit beschuldigt, weil sie den Bestrebungen der Islamisten energisch entgegentritt.
Für die Regierung der Volksrepublik ist der Kampf gegen religiös-reaktionäre Kräfte in Tibet und Xinjiang von existentieller Bedeutung. Repressive Mittel kommen hier ebenso zum Einsatz wie Maßnahme zur wirtschaftlichen Entwicklung und Armutsbekämpfung. Aber die Bemühungen der NATO-Staaten, Spaltpilze im Körper der Volksrepublik zu züchten, werden nicht nachlassen. In diesem Zusammenhang ist auch die westliche Einmischung in Hong Kong zu sehen und die Infragestellung des Ein-China-Prinzips im Hinblick auf Taiwan. Der Bestand Chinas als sozialistisch orientierte Großmacht hängt davon ab, diese Zersetzungsversuche erfolgreich abzuwehren. Erforderlich ist dazu die Entwicklung eines ausreichenden militärischen Potentials. Dass entsprechende Anstrengungen in dieser Richtung in völliger Verkennung ihres defensiven Charakters westlicherseits als Aggression gebrandmarkt werden, ist wenig verwunderlich.
Neben der Entwicklung seines wirtschaftlichen und militärischen Potentials bringt sich China aber auch zunehmend in internationale Diskussionen wie die um den Begriff der Menschenrechte ein. Es geht darum, ihre Interpretation als einen Katalog individuell basierter Rechte, der in allen Ländern der Erde in gleicher Weise in zur Anwendung zu kommen habe, in Frage zu stellen und die Aufmerksamkeit auf kollektiv-soziale Rechte zu lenken, die in Westeuropa und Nordamerika gerne vergessen werden. Xi Jinping hat darauf hingewiesen, dass Menschenrechte in unterschiedlichen Ländern mit ungleichem Entwicklungsniveau auch verschieden akzentuiert werden müssen. Er hob hervor, dass für Entwicklungsländer das wichtigste Menschenrecht im Recht auf Leben und Entwicklung bestünde. Es ist gut möglich, dass derartige Überlegungen auch in anderen Ländern mit kolonialer Vergangenheit Anklang finden und die westliche Meinungsführerschaft auf diesem Gebiet ins Wanken bringen. Die Volksrepublik könnte so neue Verbündete und Sympathien gewinnen und ihre Position in der internationalen Systemauseinandersetzung stärken.
Autor:
Erik Höhne