Pro­ble­me des sozia­lis­ti­schen Auf­baus in der Volks­re­pu­blik China 

Alle ken­nen die Rede­wen­dung vom „Sack Reis, der in Chi­na umge­fal­len ist“. Damit soll ein Ereig­nis von beson­de­rer Bedeu­tungs­lo­sig­keit beschrie­ben wer­den. Inzwi­schen ist es aber ange­bracht, sich zu fra­gen, ob die­se Meta­pher nicht einer end­gül­tig ver­gan­ge­nen Zeit ent­stammt. Chi­na ist immer noch weit ent­fernt, aber trotz­dem reicht ein flüch­ti­ger Blick in die Tages­pres­se, um sich davon zu über­zeu­gen, dass an der Beschäf­ti­gung mit dem bevöl­ke­rungs­reichs­ten Land der Welt offen­bar kein Weg mehr vorbeiführt. 

Was sind nun die spe­zi­fi­schen Grün­de für Kom­mu­nis­tin­nen und Kom­mu­nis­ten, der VR Chi­na mehr Auf­merk­sam­keit zu schenken? 

Der Auf­stieg der Volks­re­pu­blik ver­än­dert das Welt­ge­fü­ge in dem Sin­ne, als dass er die Vor­macht­stel­lung der USA-geführ­ten NATO ernst­haft in Fra­ge stellt. Die Hoff­nung US-ame­ri­ka­ni­scher Stra­te­gen, nach dem Ende der Sowjet­uni­on zur ein­zi­gen wirk­li­chen Welt­macht mit ent­spre­chen­der Füh­rungs­rol­le auf­zu­stei­gen, ist ins Wan­ken gera­ten. Die Zei­chen ste­hen viel­mehr auf Ent­wick­lung einer nicht mehr uni­po­la­ren Welt­ord­nung, in deren Rah­men Chi­na an den USA zumin­dest in öko­no­mi­scher Hin­sicht schon bald vor­bei­zie­hen könn­te. Die­ses wach­sen­de Gewicht befä­higt Chi­na auf der welt­po­li­ti­schen Büh­ne, den aggres­si­ven Bestre­bun­gen des US-Impe­ria­lis­mus ent­ge­gen­zu­tre­ten. Die chi­ne­si­sche Füh­rung tritt ein für inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on ohne Ein­mi­schung in die innen­po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se ande­rer Staa­ten und erteilt Hege­mo­nie­ge­lüs­ten jeg­li­cher Art eine Absa­ge. Das macht die Volks­re­pu­blik zum Part­ner der Kräf­te welt­weit, die für die fried­li­che Gestal­tung zwi­schen­staat­li­cher Bezie­hun­gen kämpfen. 

In West­eu­ro­pa ist die Vor­stel­lung weit ver­brei­tet, dass Sozia­lis­mus gleich­be­deu­tend sei mit Man­gel und Inef­fi­zi­enz. Es ist hier nicht der Ort, um die Ursa­che der öko­no­mi­schen Pro­ble­me des ost­eu­ro­päi­schen Real­so­zia­lis­mus zu betrach­ten. Dabei kämen vie­le unter­schied­li­che Fak­to­ren in Betracht. Unab­hän­gig davon ist aber fest­zu­stel­len, dass das genann­te Pau­schal­ur­teil im Fal­le Chi­nas gänz­lich fehl geht. Wir sehen zum ers­ten Mal eine Nati­on, deren wirt­schaft­li­che Kom­man­do­hö­hen der Staat beherrscht und wel­che die füh­ren­den kapi­ta­lis­ti­schen Natio­nen mit ihrer öko­no­mi­schen Dyna­mik das Fürch­ten lehrt. Die Glei­chung Sozia­lis­mus = Inef­fi­zi­enz geht nicht mehr auf. 

Die­ser Umstand bie­tet uns eine star­ke Argu­men­ta­ti­ons­hil­fe und auch Anre­gun­gen, um über eige­ne Sozia­lis­mus­kon­zep­tio­nen nach­zu­den­ken. Sich von Chi­nas Vor­bild inspi­rie­ren zu las­sen, darf jedoch kei­nes­falls bedeu­ten, hier ein uni­ver­sell anwend­ba­res Modell zu sehen. Die chi­ne­si­schen Genos­sin­nen und Genos­sen spre­chen nicht umsonst vom „Sozia­lis­mus chi­ne­si­scher Prä­gung“, wohl wis­send, dass das Kopie­ren von Model­len aus frem­den, gänz­lich anders gepräg­ten Tei­len der Welt nicht erfolg­reich sein kann. Die Geschich­te der KPCh sel­ber bie­tet hier Bei­spie­le hier­für. Mao Tse Tung hat­te sich bereits wäh­rend des Bür­ger­krie­ges von der blo­ßen Nach­ah­mung sowje­ti­scher Kon­zep­te gelöst und damit bei Tei­len der Par­tei durch­aus Arg­wohn her­vor­ge­ru­fen. Den­noch gab ihm der Erfolg in Gestalt der Pro­kla­ma­ti­on der Volks­re­pu­blik 1949 recht bezüg­lich sei­nes Anspru­ches, den Mar­xis­mus auf die chi­ne­si­sche Rea­li­tät anzu­wen­den. Die­se Erfah­rung soll­te auch heu­te nicht ver­ges­sen werden. 

Wenig Beach­tung fin­det die anti­ras­sis­ti­sche Qua­li­tät des chi­ne­si­schen Auf­stiegs. Hier­zu­lan­de spricht man übli­cher­wei­se von Ras­sis­mus, wenn Indi­vi­du­en Dis­kri­mi­nie­rung in ihrem per­sön­li­chen All­tag erfah­ren. Dass aber die gro­ße Mas­se der heu­te hun­gern­den oder an Hun­ger ster­ben­den Men­schen zum nicht-wei­ßen Teil der Welt­be­völ­ke­rung gehört und in Asi­en, Afri­ka und Latein­ame­ri­ka kon­zen­triert ist, bringt in Deutsch­land jedoch kaum jemand mit Ras­sis­mus in Ver­bin­dung. Beden­ken wir nun, dass es Chi­na in den letz­ten 40 Jah­ren gelang, zwi­schen 700 und 800 Mil­lio­nen Men­schen aus dem Bereich der abso­lu­ten Armut zu holen und damit bis­he­ri­ger Welt­meis­ter in Sachen Armuts­be­kämp­fung zu wer­den, so erken­nen wir hier eine Eman­zi­pa­ti­ons­leis­tung, die eine gro­ße Signal­wir­kung für die ver­elen­de­ten Mas­sen außer­halb Euro­pas und Nord­ame­ri­kas hat. 

Es gibt für uns also gute Grün­de, sich mit der VR Chi­na zu beschäf­ti­gen. Hier­bei fin­den wir bestimm­te Pro­blem­fel­der, die beim dor­ti­gen Auf­bau des Sozia­lis­mus eine Rol­le spie­len. Drei vom ihnen sol­len im Fol­gen­den ange­ris­sen werden. 

Die Gestal­tung der öko­no­mi­sche Ver­hält­nis­se Chi­nas haben im Wes­ten für viel Irri­ta­ti­on gesorgt. Denn dort herrsch­te und herrscht die Vor­stel­lung, „Sozia­lis­mus“ bedeu­te eine mög­lichst all­um­fas­sen­de Ver­staat­li­chung von Indus­trie, Grund und Boden. Der brei­te Raum, der pri­va­ter unter­neh­me­ri­scher Tätig­keit durch die Refor­men ab 1978 unter der Feder­füh­rung Deng Xiao­pings ein­ge­räumt wur­de, begüns­tig­te die Ein­schät­zung, die KPCh habe Kurs genom­men auf die Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus. Hier­bei unter­blieb jedoch die kon­kre­te Ana­ly­se des Ent­wick­lungs­stan­des Chi­nas. Auf­schluss­reich hät­te eine Rück­schau auf die von Lenin kon­zi­pier­te „Neue Öko­no­mi­sche Poli­tik“ ab 1921 sein kön­nen. Lenin hat­te nach den Erfah­run­gen mit dem vor­an­ge­gan­ge­nen, von admi­nis­tra­ti­vem Zwang gepräg­ten „Kriegs­kom­mu­nis­mus“ ein­ge­schätzt, dass Russ­land nicht über die Vor­aus­set­zun­gen ver­fü­ge, um zu einem ent­wi­ckel­ten Sozia­lis­mus direkt über­ge­hen zu kön­nen. Eine all­um­fas­sen­de Ver­staat­li­chung wür­de unter die­sen Bedin­gun­gen nur die glei­che Ver­tei­lung von Man­gel und Unter­ent­wick­lung bedeu­ten. Russ­land müs­se bei in- uns aus­län­di­schen Kapi­ta­lis­ten qua­si „in die Leh­re gehen“, um sich moder­ne Tech­nik und Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on aneig­nen. Die begrenz­te Zulas­sung pri­va­ten Kapi­tals sah er als Risi­ko, aber auch als Not­wen­dig­keit. Denn schließ­lich hat­te es in Russ­land vor der Revo­lu­ti­on kei­ne kapi­ta­lis­ti­sche Ent­wick­lung, die der in west­li­chen Län­dern ver­gleich­bar gewe­sen wäre, gege­ben. Die­se galt es nun, unter den Bedin­gun­gen pro­le­ta­ri­scher Staats­macht nach­zu­ho­len. In sei­ner Schrift „Über das Genos­sen­schafts­we­sen“, benann­te er bestimm­te Bedin­gun­gen: „…die Ver­fü­gungs­ge­walt des Staa­tes über alle gro­ßen Pro­duk­ti­ons­mit­tel, die Staats­macht in den Hän­den des Pro­le­ta­ri­ats, das Bünd­nis des Pro­le­ta­ri­ats mit den vie­len Mil­lio­nen Klein- Zwerg­bau­ern, die Siche­rung der Füh­rer­stel­lung die­ses Pro­le­ta­ri­ats gegen­über den Bau­ern…“. Zu die­sen Bedin­gun­gen erklär­te er: „Das ist noch nicht die Errich­tung der sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft, aber es ist alles, was zu ihrer Errei­chung hin­rei­chen und not­wen­dig ist.“ 

Ganz ähn­lich äußer­te sich Mao Tse Tung in sei­ner Schrift „Über die Neue Demo­kra­tie“ 1940: „Die staat­li­che Wirt­schaft einer vom Pro­le­ta­ri­at gelei­te­ten neu­de­mo­kra­ti­schen Repu­blik trägt sozia­lis­ti­schen Cha­rak­ter, sie ist die füh­ren­de Kraft der gesam­ten Volks­wirt­schaft, doch wird die­se Repu­blik das übri­ge kapi­ta­lis­ti­sche Pri­vat­ei­gen­tum nicht beschlag­nah­men, und sie wird auch die Ent­wick­lung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on nicht unter­sa­gen, soweit die­se nicht die Lebens­hal­tung der Nati­on kon­trol­liert…“  Bekannt­lich wur­de die­se Ori­en­tie­rung in Chi­na im Lau­fe der Fünf­zi­ger­jah­re auf­ge­ge­ben zuguns­ten eines ultra­lin­ken, vol­un­ta­ris­ti­schen Kur­ses. Im Zei­chen des soge­nann­ten „Gro­ßen Sprungs nach vorn“ soll­ten die moderns­ten kapi­ta­lis­ti­schen Natio­nen prak­tisch vor­aus­set­zungs­los und nur auf die eige­ne Kraft gestützt in weni­gen Jah­ren ein­ge­holt wer­den. Zu die­sem Zweck wur­de eine radi­ka­le Kol­lek­ti­vie­rung durch­ge­setzt. In die­sem Zuge ent­stan­den Volks­kom­mu­nen, in deren Rah­men jedem Pri­vat­ei­gen­tum eine schar­fe Absa­ge erteilt wur­den. In der Par­tei wur­de Funk­tio­nä­re zum Feind erklärt, die man mit dem Eti­kett brand­mark­te „Macht­ha­ber, die den kapi­ta­lis­ti­schen Weg gehen“. Die Ergeb­nis­se die­ses ver­such­ten Gewalt­mar­sches zum Sozia­lis­mus waren ver­hee­rend. Enor­me Hun­gers­nö­te war­fen das Land in sei­ner Ent­wick­lung zurück. Auch die sich anschlie­ßen­de Kul­tur­re­vo­lu­ti­on war von dem Ver­such gekenn­zeich­net, feh­len­de mate­ri­el­le Vor­aus­set­zun­gen durch ideo­lo­gi­sche Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung zu kom­pen­sie­ren. Hans Heinz Holz sprach in dem Zusam­men­hang von dem „Ver­such, die Ent­wick­lung des Bewusst­seins der Ent­wick­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te und der Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se um meh­re­re Etap­pen vor­aus­lau­fen zu las­sen“.  Gera­de aus mar­xis­ti­scher Sicht springt der Irr­tum hier ins Auge. 

Mit dem Auf­stieg Deng Xiao­pings an die Spit­ze der Par­tei setz­te die Abkehr von die­ser Ori­en­tie­rung ein. Dengs Kon­zept über die Nut­zung der Markt­me­cha­nis­men unter sozia­lis­ti­scher Staats­macht ist die KPCh bis heu­te treu geblie­ben. Eben­so beher­zigt wer­den aber auch die „Vier Grund­prin­zi­pi­en“, wel­che Deng auf einer Theo­rie­kon­fe­renz am 30. Marz 1979 darlegte: 

  1. Fest­hal­ten am sozia­lis­ti­schen Weg 
  1. Bei­be­hal­tung der Dik­ta­tur des Proletariats 
  1. füh­ren­de Rol­le der KPCh 
  1. Ori­en­tie­rung am Mar­xis­mus-Leni­nis­mus und den Mao Tse Tung-Ideen 

Im Rück­griff auf Lenin wird deut­lich, dass der Weg der KPCh kei­nen Bruch mit den Klas­si­kern des Mar­xis­mus-Leni­nis­mus dar­stellt. Viel wich­ti­ger ist aber, dass der Erfolg die­sen Weg bestä­tigt. Im Zei­chen die­ser Linie wur­den die bereits genann­ten Erfol­ge in der Armuts­be­kämp­fung mög­lich. Mao hat­te gesagt, dass den Kapi­ta­lis­ten nicht gestat­ten darf, die Lebens­hal­tung der Nati­on zu kon­trol­lie­ren. Und wenn man heu­ti­ge Leit­me­di­en der west­li­chen Welt zu Rate zieht, kann man dort lesen, wie dar­über geklagt wird, dass genau dies in Chi­na nicht mög­lich ist. Den­noch ist klar, dass das Pri­vat­ka­pi­tal in Chi­na sei­ne eige­nen Inter­es­sen ver­folgt und die­se kei­nes­wegs iden­tisch mit der sozia­lis­ti­schen Ori­en­tie­rung sind. Ob die Par­tei Herr über die in die­sem Zusam­men­hang ent­ste­hen­den Begehr­lich­kei­ten bleibt, ist eine offe­ne Fra­ge. Bis­lang scheint sie für die­se Aus­ein­an­der­set­zung jedoch gut gerüstet. 

Eine wei­te­re Fra­ge ist, wie es unter den spe­zi­fi­schen Bedin­gun­gen der Volks­re­pu­blik Chi­na gelin­gen kann, ein ange­mes­se­nes Modell von Demo­kra­tie zu ent­wi­ckeln. Der ers­te Arti­kel der chi­ne­si­schen Ver­fas­sung lau­tet: „Die Volks­re­pu­blik Chi­na ist ein sozia­lis­ti­scher Staat unter der demo­kra­ti­schen Dik­ta­tur des Vol­kes, der von der Arbei­ter­klas­se geführt wird und auf dem Bünd­nis der Arbei­ter und Bau­ern beruht.“ Liest man die­sen Satz aus der Sicht eines west­lich gepräg­ten bür­ger­li­che Demo­kra­ten, so erscheint er als eine schwer zu über­bie­ten­der Ver­rückt­heit. Wie kann es eine demo­kra­ti­sche Dik­ta­tur geben? Um das zu ver­ste­hen, muss man das Feld simp­ler Ein­deu­tig­kei­ten ver­las­sen und sich dem Den­ken in Wider­sprü­chen öff­nen, das in Chi­na durch­aus Tra­di­ti­on hat. Zunächst wäre zu klä­ren, was unter Volk ver­stan­den wird. Ant­wort gibt die chi­ne­si­sche Natio­nal­flag­ge. Die zeigt neben dem einen gro­ßen Stern vier klei­ne­re. Die­se sym­bo­li­sie­ren die das Volk bil­den­den vier revo­lu­tio­nä­ren Klas­sen: Arbei­ter, Bau­ern, Klein­bür­ger und natio­na­le Bour­geoi­sie. Letz­te­re ist eine Beson­der­heit, die sich aus dem anti­ko­lo­nia­len Kampf Chi­nas erklärt. Neben der mit den aus­län­di­schen Impe­ria­lis­ten ver­bün­de­ten Komp­ra­do­ren­bour­geoi­sie gab es auch bür­ger­li­che Kräf­te, die bereit waren, sich dem Kampf für natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät anzu­schlie­ßen.  Deren Hal­tung wur­de bei der Gestal­tung der Flag­ge gewürdigt. 

Die Volks­re­pu­blik ver­stand und ver­steht sich also als ein Klas­sen­bünd­nis. Vor­ran­gi­ges Ziel die­ses Bünd­nis­ses bestand dar­in, das Land aus den bar­ba­ri­schen Kolo­ni­al­ver­hält­nis­sen her­aus­zu­füh­ren. Es ver­steht sich von selbst, dass die inne­ren und äuße­ren Pro­fi­teu­re die­ser Ver­hält­nis­se dies nicht zu akzep­tie­ren gewillt waren. Der Bür­ger­krieg hat­te die Unver­träg­lich­keit die­ser bei­den Posi­tio­nen zum Aus­druck gebracht. Und aus der Geschich­te ist hin­läng­lich bekannt, dass auch nach einem gewon­ne­nen Bür­ger­krieg und der Pro­kla­ma­ti­on eines Arbei­ter– und Bau­ern­staa­tes der Klas­sen­feind die Hän­de nicht in den Schoß legt. Ein Staat wie die VR Chi­na ist bei Stra­fe des Unter­gangs gezwun­gen, die­sem Umstand Rech­nung zu tra­gen. Neben die Sphä­re demo­kra­ti­scher Wil­lens­bil­dung muss zwin­gend der Kampf um die Siche­rung der eige­nen Exis­tenz tre­ten. Und die­ser ist natur­ge­mäß auch repres­siv. Hier ist nicht der Platz für anti­au­to­ri­tä­re und liber­tä­re Fan­ta­sien. In sei­ner Arbeit „Über die demo­kra­ti­sche Dik­ta­tur des Vol­kes“ spricht Mao Klar­text: „Ihr seid dik­ta­to­risch! Lie­bens­wer­te Her­ren, ihr habt recht, gera­de das sind wir. Alle Erfah­run­gen, die das chi­ne­si­sche Volk jahr­zehn­te­lang gesam­melt hat, leh­ren uns, die demo­kra­ti­sche Dik­ta­tur des Vol­kes durch­zu­set­zen – jeden­falls läuft bei­des auf ein und das­sel­be hin­aus -, das heißt, den Reak­tio­nä­ren das Recht auf Mei­nungs­äu­ße­rung zu ent­zie­hen und nur dem Volk die­ses Recht vor­zu­be­hal­ten.“ In sei­ner spä­te­re Schrift „Über die rich­ti­ge Behand­lung der Wider­sprü­che im Vol­ke“ beschäf­tig­te Mao sich mit nicht-ant­ago­nis­ti­schen Wider­sprü­chen, d. h. mit Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Volk auf der Basis grund­sätz­lich gemein­sa­mer Inter­es­sen und im Gegen­satz dazu mit ant­ago­nis­ti­schen Wider­sprü­chen, d. h. mit sol­chen, in denen der Kampf zwi­schen Volk und feind­li­chen Kräf­ten zum Aus­druck kommt. Mit die­ser Dif­fe­ren­zie­rung ist frei­lich kein unfehl­ba­rer Maß­stab gege­ben, das eine vom ande­ren zu unter­schei­den. Gera­de wäh­rend der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on muss­ten ver­dien­te Par­tei- und Armee­ve­te­ra­nen erle­ben, dass man in die­ser Hin­sicht wohl die Ori­en­tie­rung ver­lo­ren hat­te und sie mit unsin­ni­gen Vor­wür­fen als Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re anpran­ger­te. Die spä­te­re Kor­rek­tur die­ses Unrechts ändert nichts dar­an, dass die Unter­schei­dung zwi­schen demo­kra­ti­scher Mei­nungs­äu­ße­rung und kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­rer Tätig­keit eine blei­ben­de und kei­nes­wegs ein­fa­che Auf­ga­be ist, zumal bei­de Posi­tio­nen auch flie­ßend inein­an­der über­ge­hen können. 

In der Pra­xis ver­wirk­licht sich die chi­ne­si­sche Demo­kra­tie im Sys­tem der Volks­kon­gres­se auf loka­ler, regio­na­ler und zen­tra­ler Ebe­ne, wobei die loka­len Kon­gres­se direkt und die über­ge­ord­ne­ten Kör­per­schaf­ten jeweils von den nächst­nied­ri­ge­ren gewählt wer­den. Wer für einen loka­len Volks­kon­gress kan­di­die­ren will, muss von einer Par­tei, einer Mas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on oder von mehr als 10 wahl­be­rech­tig­ten Per­so­nen auf­ge­stellt werden. 

Eine Beson­der­heit Chi­nas ist die kon­sul­ta­ti­ve Demo­kra­tie. Mit der Poli­ti­schen Kon­sul­ta­tiv­kon­fe­renz des chi­ne­si­schen Vol­kes (PKKCV) besteht ein Gre­mi­um, in dem die KPCh, die wei­te­ren acht demo­kra­ti­schen Par­tei­en, gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, Reli­gio­nen und Natio­na­li­tä­ten ver­tre­ten sind und an der Gestal­tung der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se bera­tend teilnehmen. 

Aber eben­so fin­den auch öffent­li­che Aus­spra­chen zu Geset­zes­vor­ha­ben statt. Auf kom­mu­na­ler Ebe­ne wird mit basis­de­mo­kra­ti­schen Ansät­zen wie dem Modell „Vier Tref­fen und zwei Ver­öf­fent­li­chun­gen“ expe­ri­men­tiert. Wenn es um ört­li­che Belan­ge geht, ent­wi­ckelt zunächst die Grund­or­ga­ni­sa­ti­on der KPCh des Dor­fes Vor­schlä­ge. Die­se wer­den bei einem wei­te­ren Tref­fen von zwei Ein­woh­ner­ko­mi­tees dis­ku­tiert. Die dort erziel­ten Ergeb­nis­se gehen wie­der an die Par­tei­mit­glie­der zur wei­te­ren Debat­te. Beim vier­ten Tref­fen erfolgt dann die Abstim­mung durch die Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter der Dorfbevölkerung. 

Die­ses eige­ne Modell von Demo­kra­tie wird von der Bevöl­ke­rung mehr­heit­lich posi­tiv ange­nom­men. Eine Stu­die der Washing­ton Post aus dem Jah­re 2020 ermit­tel­te, dass 97 % der chi­ne­si­schen Bevöl­ke­rung mit der Regie­rung zufrie­den sei­en. Eine Unter­su­chung der Har­vard-Uni­ver­si­tät zur glei­chen Fra­ge­stel­lung wies für den Zeit­raum von 2003 bis 2016 einen Anstieg der Zufrie­den­heit von 86 auf 93 % aus. Däni­sche Mei­nungs­for­scher stell­ten 2020 fest, dass 73 % der chi­ne­si­schen Bevöl­ke­rung der Mei­nung waren. in einer Demo­kra­tie zu leben. Die ent­spre­chen­den Wer­te für die USA und die BRD waren 49 und 67 %. 

Das drit­te Pro­blem, um das es hier gehen soll, ist das des natio­na­len Zusam­men­hal­tes. Chi­na ist ein Viel­völ­ker­staat, in des­sen Geschich­te sowohl Zei­ten der Ein­heit wie auch der Frag­men­tie­rung zu fin­den sind. Es ist bemer­kens­wert, dass der Sino­lo­ge und Direk­tor des Chi­na Zen­trums Tübin­gen Hel­wig Schmidt-Glint­zer fest­stell­te, es sei nahe­zu ein Wun­der, dass Chi­na heu­te als zusam­men­hän­gen­der Staat exis­tie­re. Die Ein­heit der Volks­re­pu­blik ist als kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit. In Viel­völ­ker­staa­ten stellt sich für die ein­zel­nen Eth­ni­en natur­ge­mäß die Fra­ge, ob sie im gesamt­staat­li­chen Ver­bund ver­blei­ben oder den Weg der Selbst­stän­dig­keit beschrei­ten wol­len. Der chi­ne­si­sche Staat ist also gefragt, allen Natio­na­li­tä­ten attrak­ti­ve Exis­tenz- und Ent­wick­lungs­an­ge­bo­te zu machen. Gleich­zei­tig muss den kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Beson­der­hei­ten der ein­zel­nen Volks­grup­pen Rech­nung getra­gen werden. 

Wenn die KPCh nun ver­sucht, den Sozia­lis­mus chi­ne­si­scher Prä­gung als gemein­sa­mes Haus aller in den Lan­des­gren­zen leben­den Völ­ker zu ent­wi­ckeln, so kann sie dies aber kei­nes­wegs unge­stört tun. Den stra­te­gi­schen Köp­fen der NATO ist in guter Erin­ne­rung, mit wel­cher Wir­kung die natio­na­lis­ti­sche bzw. sepa­ra­tis­ti­sche Kar­te im Kampf gegen die UdSSR und gegen Jugo­sla­wi­en gespielt wer­den konn­te. Ihr Ver­hält­nis zu Chi­na ist geprägt von einer per­ma­nen­ten Suche nach eth­ni­schen und reli­giö­sen Dif­fe­ren­zen in die­sem Land, die sich mög­li­cher­wei­se zu exis­tenz­be­dro­hen­den Ris­sen aus­deh­nen las­sen. So wird schon seit gerau­mer Zeit die ent­mach­te­te und teil­wei­se ins Exil getrie­be­ne bud­dhis­ti­sche Geist­lich­keit Tibets mas­siv unter­stützt. Bis zum Beginn der demo­kra­ti­schen Refor­men in Tibet im Jah­re 1959 hat­ten der Dalai Lama und der von ihm geführ­te Kle­rus eines mit­tel­al­ter­lich gepräg­ten Theo­kra­tie vor­ge­stan­den und über eine Bevöl­ke­rung geherrscht, die zum aller­größ­ten Teil aus Skla­ven und Leib­ei­ge­nen bestand. Die chi­ne­si­sche Füh­rung hat­te die­sen bar­ba­ri­schen Zustän­den ein Ende berei­tet. Dafür wird sie bis heu­te im Wes­ten ange­klagt, sich an der Frei­heit Tibets zu ver­sün­di­gen, des­sen Zuge­hö­rig­keit zu Chi­na in ahis­to­ri­scher Wei­se bestrit­ten wird. Eine para­si­tä­re Pries­ter­kas­te wird zum legi­ti­men Reprä­sen­tan­ten der tibe­ti­schen Bevöl­ke­rung auf­ge­wer­tet. Dies ist beglei­tet von einem ideo­lo­gi­schen Kreuz­zug im Namen der Men­schen­rech­te. In West­eu­ro­pa fällt die­se Pro­pa­gan­da vor allem im grün-alter­na­ti­ven Milieu auf frucht­ba­ren Boden. Es ist ihr gelun­gen, in die­ser Fra­ge eine gewis­se geis­ti­ge Hege­mo­nie zu errin­gen. Die Erzäh­lung, dass es sich beim Dalai Lama um einen spi­ri­tu­el­len Men­schen­freund und Pazi­fis­ten han­de­le, wel­cher der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur gewalt­los die Stirn bie­te, wird auch in Deutsch­land nur wenig bezwei­felt. Kaum jemand fragt, wie die­ses Bild bei­spiels­wei­se zum Straf­sys­tem unter der Lama-Herr­schaft passt, das von grau­sa­men Fol­te­run­gen und Ver­stüm­me­lun­gen geprägt war. Den Expo­nen­ten einer sol­chen Ord­nung als Vor­kämp­fer der Men­sch­rech­te zu fei­ern, ist gro­tesk und trotz­dem nicht ohne öffent­li­che Wirkung. 

Sei­ne Ent­spre­chung fin­det die­ses Vor­ge­hen in der För­de­rung isla­mis­ti­scher Ter­ro­ris­ten in der Pro­vinz Xin­jiang. Uigu­ri­sche Sepa­ra­tis­ten stre­ben hier die Errich­tung eines unab­hän­gi­gen Got­tes­staa­tes an und haben die­sem Vor­ha­ben mit zahl­rei­chen ver­hee­ren­den Ter­ror­an­schlä­gen bereits Nach­druck ver­lie­hen. Von die­sen ist im Wes­ten aller­dings wei­nig oder gar nicht die Rede. Statt­des­sen wird die chi­ne­si­sche Regie­rung des Völ­ker­mor­des an den Uigu­ren in ihrer Gesamt­heit beschul­digt, weil sie den Bestre­bun­gen der Isla­mis­ten ener­gisch entgegentritt. 

Für die Regie­rung der Volks­re­pu­blik ist der Kampf gegen reli­gi­ös-reak­tio­nä­re Kräf­te in Tibet und Xin­jiang von exis­ten­ti­el­ler Bedeu­tung. Repres­si­ve Mit­tel kom­men hier eben­so zum Ein­satz wie Maß­nah­me zur wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung und Armuts­be­kämp­fung. Aber die Bemü­hun­gen der NATO-Staa­ten, Spalt­pil­ze im Kör­per der Volks­re­pu­blik zu züch­ten, wer­den nicht nach­las­sen. In die­sem Zusam­men­hang ist auch die west­li­che Ein­mi­schung in Hong Kong zu sehen und die Infra­ge­stel­lung des Ein-Chi­na-Prin­zips im Hin­blick auf Tai­wan. Der Bestand Chi­nas als sozia­lis­tisch ori­en­tier­te Groß­macht hängt davon ab, die­se Zer­set­zungs­ver­su­che erfolg­reich abzu­weh­ren. Erfor­der­lich ist dazu die Ent­wick­lung eines aus­rei­chen­den mili­tä­ri­schen Poten­ti­als. Dass ent­spre­chen­de Anstren­gun­gen in die­ser Rich­tung in völ­li­ger Ver­ken­nung ihres defen­si­ven Cha­rak­ters west­li­cher­seits als Aggres­si­on gebrand­markt wer­den, ist wenig verwunderlich. 

Neben der Ent­wick­lung sei­nes wirt­schaft­li­chen und mili­tä­ri­schen Poten­ti­als bringt sich Chi­na aber auch zuneh­mend in inter­na­tio­na­le Dis­kus­sio­nen wie die um den Begriff der Men­schen­rech­te ein. Es geht dar­um, ihre Inter­pre­ta­ti­on als einen Kata­log indi­vi­du­ell basier­ter Rech­te, der in allen Län­dern der Erde in glei­cher Wei­se in zur Anwen­dung zu kom­men habe, in Fra­ge zu stel­len und die Auf­merk­sam­keit auf kol­lek­tiv-sozia­le Rech­te zu len­ken, die in West­eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka ger­ne ver­ges­sen wer­den. Xi Jin­ping hat dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Men­schen­rech­te in unter­schied­li­chen Län­dern mit unglei­chem Ent­wick­lungs­ni­veau auch ver­schie­den akzen­tu­iert wer­den müs­sen. Er hob her­vor, dass für Ent­wick­lungs­län­der das wich­tigs­te Men­schen­recht im Recht auf Leben und Ent­wick­lung bestün­de. Es ist gut mög­lich, dass der­ar­ti­ge Über­le­gun­gen auch in ande­ren Län­dern mit kolo­nia­ler Ver­gan­gen­heit Anklang fin­den und die west­li­che Mei­nungs­füh­rer­schaft auf die­sem Gebiet ins Wan­ken brin­gen. Die Volks­re­pu­blik könn­te so neue Ver­bün­de­te und Sym­pa­thien gewin­nen und ihre Posi­ti­on in der inter­na­tio­na­len Sys­tem­aus­ein­an­der­set­zung stärken. 

Autor:

Erik Höh­ne 

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