8. Mai 2025

Rede des Frie­dens­bünd­nis Neuss

Sehr geehr­te Anwesende, 

wir ste­hen hier an einem Mahn­mal, das errich­tet wur­de zum Geden­ken an Män­ner und Frau­en aus der Sowjet­uni­on und aus Polen, die man nach Neuss ver­schlepp­te, damit sie hier Zwangs­ar­beit für das faschis­ti­sche Deutsch­land ver­rich­te­ten. Dies war Teil eines gro­ßen bar­ba­ri­schen Plans, der ab dem 22. Juni 1941 in die Tat umge­setzt wur­de mit dem soge­nann­ten „Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa“ – der Ope­ra­ti­ons­na­me für den deut­schen Über­fall auf die UdSSR. Es kann nicht oft genug gesagt wer­den: Hier­bei han­del­te es sich nicht um einen Krieg im her­kömm­li­chen Sin­ne. Viel­leicht ging es um ein gewal­ti­ges eth­nisch-ideo­lo­gi­sche Mas­sen­ver­nich­tungs­un­ter­neh­men. Hit­ler sel­ber hat­te die­sen wesent­li­chen Unter­schied aus­drück­lich betont. Für den Fall des erwar­te­ten mili­tä­ri­schen Sie­ges hat­te die Nazi-Füh­rung den soge­nann­ten Gene­ral­plan Ost aus­ar­bei­ten las­sen, der Zwangs­um­sie­de­lung sowie Ermor­dung der sowje­ti­schen Zivil­be­völ­ke­rung in bis­lang unge­kann­tem Aus­maß vor­sah. Die Men­schen soll­ten durch direk­te Tötung, Hun­ger und Zwangs­ar­beit aus­ge­löscht wer­den. Auf die­se Wei­se woll­te man sich das schaf­fen, was die Faschis­ten unter dem Schlag­wort „Lebens­raum im Osten“ pro­pa­gier­ten. Das Land der Sowjet­uni­on, aber auch das ande­rer ost­eu­ro­päi­scher Staa­ten war vor­ge­se­hen für die „Ger­ma­ni­sie­rung“, d. h. für deut­sche Besie­de­lung im Anschluss an den Völ­ker­mord. Auch wenn die­ses Vor­ha­ben letzt­lich schei­ter­te, kos­te­te es 27 Mil­lio­nen sowje­ti­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger das Leben. Die­se Men­schen stel­len die mit Abstand größ­te Opfer­grup­pe des Hit­ler­fa­schis­mus dar und zugleich die­je­ni­ge, die in der deut­schen Gedenk­kul­tur am meis­ten durch Nicht­be­ach­tung her­ab­ge­wür­digt wird. Aus­ge­rech­net das umfang­reichs­te Ver­bre­chen der Nazis ist im öffent­li­chen Bewusst­sein unse­res Lan­des am wenigs­ten prä­sent. Wenn wir fra­gen, war­um das so ist, müs­sen wir zurück­ge­hen in die Fünf­zi­ger­jah­re, als die Ade­nau­er-Regie­rung im Zei­chen des Kal­ten Kriegs die alten Eli­ten der Drit­ten Reichs reha­bi­li­tier­te – sofern ihre Kar­rie­ren zuvor über­haupt irgend­ei­ne Art von Beein­träch­ti­gung erfah­ren hatten. 

In Bezug auf die Opfer des Faschis­mus wur­de in der BRD eine zag­haf­te Gedenk­kul­tur eta­bliert, wel­che sehr selek­tiv vor­ging und sich am eige­nen poli­ti­schen Welt­bild ori­en­tier­te. Mit­glie­der der KPD, wel­che den aller­größ­ten Teil des deut­schen Wider­stands gestellt hat­te, sahen sich bald erneu­ter Ver­fol­gung aus­ge­setzt. Als respek­ta­bel galt nur der natio­nal­kon­ser­va­ti­ve und mili­tä­ri­sche Teil der Hit­ler-Geg­ner. Aber selbst das Andenken an Oberst Graf von Stauf­fen­berg war lan­ge belas­tet vom Vor­wurf des „Vater­lands­ver­rats“. Eben­so fand das Lei­den und Ster­ben von Homo­se­xu­el­len sowie von Sin­ti und Roma weder Aner­ken­nung noch Ent­schä­di­gung. Und erst recht schwieg man sich aus über den Ver­nich­tungs­krieg im Osten. 

Das an Fei­er- und Gedenk­ta­gen gepfleg­te Selbst­bild der BRD von einem Staat, der aus der Ver­gan­gen­heit gelernt habe, wur­de über­schat­tet durch erheb­li­che Frag­wür­dig­kei­ten, wie z. B.  eine von Nazi-Gene­rä­len auf­ge­bau­te Bun­des­wehr, ein Ver­fas­sungs­schutz mit alten SS- und Gesta­po­leu­ten, Holo­caust-Pro­fi­teu­ren an der Spit­ze der Wirt­schaft und zahl­lo­sen wei­ter­be­schäf­ti­ge Nazi-Rich­ter. Das Leit­mo­tiv des Kal­ten Kriegs war auf west­li­cher Sei­te der Anti­kom­mu­nis­mus – eine Ideo­lo­gie, die der bür­ger­li­che Anti­fa­schist Tho­mas Mann die Grund­tor­heit unse­res Jahr­hun­derts genannt hat­te. Wer aber den­noch an ihr fest­hielt, konn­te sich kei­ne fana­ti­sche­ren Mit­kämp­fer wün­schen als die­je­ni­gen, die schon unter Hit­ler in die­sem Sin­ne gewirkt hat­te. Der Hass auf die Sowjet­uni­on als größ­ter Macht des sozia­lis­ti­schen Lagers war das geis­ti­ge Ver­bin­dungs­glied zwi­schen Drit­tem Reich und Bun­des­re­pu­blik. Ade­nau­er, der sich sogar zu einer Ehren­er­klä­rung zuguns­ten der Waf­fen-SS ver­stieg, und sei­ne Mistrei­ter nah­men die­ses Erbe bereit­wil­lig an. Und dies ist der Grund, war­um das Geden­ken an die sowje­ti­schen Kriegs­to­ten in Deutsch­land bis heu­te ein Schat­ten­da­sein fris­tet. Das Feind­bild „Sowjet­uni­on“ hat seit der Nazi­dik­ta­tur die Zei­ten über­dau­ert und ist nun über­ge­gan­gen auf die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on, nach­dem klar gewor­den war, dass die­ser Staat gewillt ist, im Kon­zert der Groß­mäch­te mit­zu­spie­len. Der ehe­ma­li­ge US-Prä­si­dent Oba­ma hat­te Russ­land einst in einem Anflug dümm­li­cher Arro­ganz als „Regio­nal­macht“ ver­spot­tet. Inzwi­schen wis­sen wir, dass man in Mos­kau kei­nes­wegs gedenkt, sich die­sen Schuh anzu­zie­hen. Und damit war auch die Zeit gekom­men für die Reak­ti­vie­rung des alten Feindbilds. 

Der heu­ti­ge Tag kann durch­aus gegen­sätz­li­che Emp­fin­dun­gen und Gedan­ken aus­lö­sen. Da ist zum einen die Freu­de über die Befrei­ung vor 80 Jah­ren und die Dank­bar­keit gegen­über denen, wel­che für sie kämpf­ten und star­ben, allen vor­an die Sol­da­ten der Roten Armee. Der mit Abstand größ­te Blut­zoll, der durch sie geleis­tet wur­de, ver­dient unver­än­dert unse­ren größ­ten Respekt. Aber der 8. Mai ist auch ein Tag der Trau­er und der Scham dar­über, dass unse­re Nati­on nicht die Ener­gie ent­wi­ckel­te, dass brau­ne Joch aus eige­nen Kraft abzu­wer­fen. Die­ser his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung haben wir uns zu stel­len. Sie bedeu­tet, für den Frie­den ein­zu­tre­ten und Wider­stand zu leis­ten, wenn uns Krieg und Auf­rüs­tung wie­der als alter­na­tiv­los prä­sen­tiert wer­den. Und es ist vor allem eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung gegen­über den Völ­kern der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on und gegen­über Russ­land. 27 Mil­lio­nen Tote las­sen gar nichts ande­res zu, es sei denn, man hat zuvor jeg­li­ches Geschichts­be­wusst­sein im Zei­chen der eige­nen poli­ti­schen Kurz­sich­tig­keit ent­sorgt. Lei­der ist es genau die­se Geis­tes­hal­tung, die nun wie­der das Maß der Din­ge gewor­den ist. In der rus­si­schen bzw. sowje­ti­schen Geschich­te gab es zwei ein­schnei­den­de, trau­ma­ti­sche Erfah­run­gen, die das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis die­ses Lan­des bis heu­te bestim­men. Das eine ist der 24. Juni 1812, als die Streit­kräf­te des napo­leo­ni­schen Frank­reich in das Land ein­mar­schier­ten, das ande­re der besag­te 22. Juni 1941. In bei­den Fäl­len war Russ­land bzw. die UdSSR Opfer eines Angriffs mit kata­stro­pha­len Aus­wir­kun­gen. Dar­aus ent­wi­ckel­te sich nach dem Zwei­ten Welt­krieg eine Mili­tär­dok­trin, deren Ziel es war, ein drit­tes der­ar­ti­ges Ereig­nis unter allen Umstän­den unmög­lich zu machen. Künf­tig soll­te nicht mehr zuge­las­sen wer­den, dass geg­ne­ri­sche Mäch­te sich in sowje­ti­scher Grenz­nä­he kon­zen­trie­ren und sich eine Basis für einen erneu­ten ähn­li­chen Angriff schaf­fen. Mit der wort­brü­chi­gen NATO-Ost­erwei­te­rung wur­de die­ses his­to­risch mehr als ver­ständ­li­che Sicher­heits­in­ter­es­se auf das Gröbs­te ver­letzt. Der inzwi­schen ver­stor­be­ne Alt­bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmidt, der in sei­ner Amts­zeit selbst für eine har­te Linie gegen­über der UdSSR stand, sag­te sei­ner­zeit zur ost­eu­ro­päi­schen Aus­wei­tung der NATO in einer Fern­seh­sen­dung: „Das muss bei jedem rus­si­schen Gene­ral­stabs­of­fi­zier Besorg­nis aus­lö­sen. (…) Das muss Unru­he aus­lö­sen und ob es klug war, das darf man sich fra­gen.“ Ich hof­fe, dass Hel­mut Schmidt die post­hu­me Beschimp­fung als Kreml-Agent erspart bleibt und wage die Ver­mu­tung, dass er heu­te die von ihm ange­ris­se­ne Fra­ge klar beant­wor­ten wür­de: Nein, es war ganz und gar nicht klug! Es war das Unklug­s­te über­haupt, das Ver­spre­chen des Ver­zicht auf eine NATO-Ost­erwei­te­rung gegen­über Mos­kau zu bre­chen. War­um hat man nach der Auf­lö­sung des War­schau­er Ver­trags nicht auch die NATO als Relikt des Kal­ten Kriegs auf­ge­löst und gemein­sam mit Russ­land eine neue gesamt­eu­ro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur ent­wi­ckelt? Statt­des­sen regier­te im Wes­ten, nach­dem man sich im Ost-West-Kon­flikt durch­ge­setzt hat­te, die Sie­ges­be­sof­fen­heit und die ver­trägt sich bekannt­lich schlecht mit poli­ti­scher Weit­sicht. Von dort aus führ­te ein gera­der Weg zu dem Ver­such, die Ukrai­ne in den west­li­chen Ein­fluss­be­reich hin­ein­zu­zie­hen. Der Mai­dan-Putsch in Kiew 2014, mit dem ein gewähl­ter Prä­si­dent gestürzt wur­de, fand statt unter unver­hoh­le­ner Ein­mi­schung durch NATO und EU. Als die Put­schis­ten dann faschis­ti­sche Batail­lo­ne auf die wider­spens­ti­ge Bevöl­ke­rung im Osten des eige­nen Lan­des los­lie­ßen, wur­de auch dies in den west­li­chen Haupt­städ­ten umstands­los akzep­tiert. Die­se Vor­ge­schich­te des Ukrai­ne-Kriegs über­lässt man heu­te am liebs­ten dem Ver­ges­sen. Und es sind genau die­je­ni­gen, die uns nun Auf­rüs­tung und Mili­ta­ri­sie­rung gegen­über Russ­land anprei­sen, die auf unser schwa­ches Gedächt­nis spe­ku­lie­ren. Sie sind es, die wir stop­pen müs­sen, so lan­ge es noch Zeit ist. Die Toten, an deren Ehren­mal wir hier ste­hen, mah­nen uns. Die Waf­fen nie­der! Frie­den mit Russland! 

Ich dan­ke Ihnen. 

Erik Höh­ne