Rede des Friedensbündnis Neuss
Sehr geehrte Anwesende,
wir stehen hier an einem Mahnmal, das errichtet wurde zum Gedenken an Männer und Frauen aus der Sowjetunion und aus Polen, die man nach Neuss verschleppte, damit sie hier Zwangsarbeit für das faschistische Deutschland verrichteten. Dies war Teil eines großen barbarischen Plans, der ab dem 22. Juni 1941 in die Tat umgesetzt wurde mit dem sogenannten „Unternehmen Barbarossa“ – der Operationsname für den deutschen Überfall auf die UdSSR. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Hierbei handelte es sich nicht um einen Krieg im herkömmlichen Sinne. Vielleicht ging es um ein gewaltiges ethnisch-ideologische Massenvernichtungsunternehmen. Hitler selber hatte diesen wesentlichen Unterschied ausdrücklich betont. Für den Fall des erwarteten militärischen Sieges hatte die Nazi-Führung den sogenannten Generalplan Ost ausarbeiten lassen, der Zwangsumsiedelung sowie Ermordung der sowjetischen Zivilbevölkerung in bislang ungekanntem Ausmaß vorsah. Die Menschen sollten durch direkte Tötung, Hunger und Zwangsarbeit ausgelöscht werden. Auf diese Weise wollte man sich das schaffen, was die Faschisten unter dem Schlagwort „Lebensraum im Osten“ propagierten. Das Land der Sowjetunion, aber auch das anderer osteuropäischer Staaten war vorgesehen für die „Germanisierung“, d. h. für deutsche Besiedelung im Anschluss an den Völkermord. Auch wenn dieses Vorhaben letztlich scheiterte, kostete es 27 Millionen sowjetischer Bürgerinnen und Bürger das Leben. Diese Menschen stellen die mit Abstand größte Opfergruppe des Hitlerfaschismus dar und zugleich diejenige, die in der deutschen Gedenkkultur am meisten durch Nichtbeachtung herabgewürdigt wird. Ausgerechnet das umfangreichste Verbrechen der Nazis ist im öffentlichen Bewusstsein unseres Landes am wenigsten präsent. Wenn wir fragen, warum das so ist, müssen wir zurückgehen in die Fünfzigerjahre, als die Adenauer-Regierung im Zeichen des Kalten Kriegs die alten Eliten der Dritten Reichs rehabilitierte – sofern ihre Karrieren zuvor überhaupt irgendeine Art von Beeinträchtigung erfahren hatten.
In Bezug auf die Opfer des Faschismus wurde in der BRD eine zaghafte Gedenkkultur etabliert, welche sehr selektiv vorging und sich am eigenen politischen Weltbild orientierte. Mitglieder der KPD, welche den allergrößten Teil des deutschen Widerstands gestellt hatte, sahen sich bald erneuter Verfolgung ausgesetzt. Als respektabel galt nur der nationalkonservative und militärische Teil der Hitler-Gegner. Aber selbst das Andenken an Oberst Graf von Stauffenberg war lange belastet vom Vorwurf des „Vaterlandsverrats“. Ebenso fand das Leiden und Sterben von Homosexuellen sowie von Sinti und Roma weder Anerkennung noch Entschädigung. Und erst recht schwieg man sich aus über den Vernichtungskrieg im Osten.
Das an Feier- und Gedenktagen gepflegte Selbstbild der BRD von einem Staat, der aus der Vergangenheit gelernt habe, wurde überschattet durch erhebliche Fragwürdigkeiten, wie z. B. eine von Nazi-Generälen aufgebaute Bundeswehr, ein Verfassungsschutz mit alten SS- und Gestapoleuten, Holocaust-Profiteuren an der Spitze der Wirtschaft und zahllosen weiterbeschäftige Nazi-Richter. Das Leitmotiv des Kalten Kriegs war auf westlicher Seite der Antikommunismus – eine Ideologie, die der bürgerliche Antifaschist Thomas Mann die Grundtorheit unseres Jahrhunderts genannt hatte. Wer aber dennoch an ihr festhielt, konnte sich keine fanatischeren Mitkämpfer wünschen als diejenigen, die schon unter Hitler in diesem Sinne gewirkt hatte. Der Hass auf die Sowjetunion als größter Macht des sozialistischen Lagers war das geistige Verbindungsglied zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik. Adenauer, der sich sogar zu einer Ehrenerklärung zugunsten der Waffen-SS verstieg, und seine Mistreiter nahmen dieses Erbe bereitwillig an. Und dies ist der Grund, warum das Gedenken an die sowjetischen Kriegstoten in Deutschland bis heute ein Schattendasein fristet. Das Feindbild „Sowjetunion“ hat seit der Nazidiktatur die Zeiten überdauert und ist nun übergegangen auf die Russische Föderation, nachdem klar geworden war, dass dieser Staat gewillt ist, im Konzert der Großmächte mitzuspielen. Der ehemalige US-Präsident Obama hatte Russland einst in einem Anflug dümmlicher Arroganz als „Regionalmacht“ verspottet. Inzwischen wissen wir, dass man in Moskau keineswegs gedenkt, sich diesen Schuh anzuziehen. Und damit war auch die Zeit gekommen für die Reaktivierung des alten Feindbilds.
Der heutige Tag kann durchaus gegensätzliche Empfindungen und Gedanken auslösen. Da ist zum einen die Freude über die Befreiung vor 80 Jahren und die Dankbarkeit gegenüber denen, welche für sie kämpften und starben, allen voran die Soldaten der Roten Armee. Der mit Abstand größte Blutzoll, der durch sie geleistet wurde, verdient unverändert unseren größten Respekt. Aber der 8. Mai ist auch ein Tag der Trauer und der Scham darüber, dass unsere Nation nicht die Energie entwickelte, dass braune Joch aus eigenen Kraft abzuwerfen. Dieser historischen Verantwortung haben wir uns zu stellen. Sie bedeutet, für den Frieden einzutreten und Widerstand zu leisten, wenn uns Krieg und Aufrüstung wieder als alternativlos präsentiert werden. Und es ist vor allem eine besondere Verantwortung gegenüber den Völkern der ehemaligen Sowjetunion und gegenüber Russland. 27 Millionen Tote lassen gar nichts anderes zu, es sei denn, man hat zuvor jegliches Geschichtsbewusstsein im Zeichen der eigenen politischen Kurzsichtigkeit entsorgt. Leider ist es genau diese Geisteshaltung, die nun wieder das Maß der Dinge geworden ist. In der russischen bzw. sowjetischen Geschichte gab es zwei einschneidende, traumatische Erfahrungen, die das kollektive Gedächtnis dieses Landes bis heute bestimmen. Das eine ist der 24. Juni 1812, als die Streitkräfte des napoleonischen Frankreich in das Land einmarschierten, das andere der besagte 22. Juni 1941. In beiden Fällen war Russland bzw. die UdSSR Opfer eines Angriffs mit katastrophalen Auswirkungen. Daraus entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Militärdoktrin, deren Ziel es war, ein drittes derartiges Ereignis unter allen Umständen unmöglich zu machen. Künftig sollte nicht mehr zugelassen werden, dass gegnerische Mächte sich in sowjetischer Grenznähe konzentrieren und sich eine Basis für einen erneuten ähnlichen Angriff schaffen. Mit der wortbrüchigen NATO-Osterweiterung wurde dieses historisch mehr als verständliche Sicherheitsinteresse auf das Gröbste verletzt. Der inzwischen verstorbene Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der in seiner Amtszeit selbst für eine harte Linie gegenüber der UdSSR stand, sagte seinerzeit zur osteuropäischen Ausweitung der NATO in einer Fernsehsendung: „Das muss bei jedem russischen Generalstabsoffizier Besorgnis auslösen. (…) Das muss Unruhe auslösen und ob es klug war, das darf man sich fragen.“ Ich hoffe, dass Helmut Schmidt die posthume Beschimpfung als Kreml-Agent erspart bleibt und wage die Vermutung, dass er heute die von ihm angerissene Frage klar beantworten würde: Nein, es war ganz und gar nicht klug! Es war das Unklugste überhaupt, das Versprechen des Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung gegenüber Moskau zu brechen. Warum hat man nach der Auflösung des Warschauer Vertrags nicht auch die NATO als Relikt des Kalten Kriegs aufgelöst und gemeinsam mit Russland eine neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur entwickelt? Stattdessen regierte im Westen, nachdem man sich im Ost-West-Konflikt durchgesetzt hatte, die Siegesbesoffenheit und die verträgt sich bekanntlich schlecht mit politischer Weitsicht. Von dort aus führte ein gerader Weg zu dem Versuch, die Ukraine in den westlichen Einflussbereich hineinzuziehen. Der Maidan-Putsch in Kiew 2014, mit dem ein gewählter Präsident gestürzt wurde, fand statt unter unverhohlener Einmischung durch NATO und EU. Als die Putschisten dann faschistische Bataillone auf die widerspenstige Bevölkerung im Osten des eigenen Landes losließen, wurde auch dies in den westlichen Hauptstädten umstandslos akzeptiert. Diese Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs überlässt man heute am liebsten dem Vergessen. Und es sind genau diejenigen, die uns nun Aufrüstung und Militarisierung gegenüber Russland anpreisen, die auf unser schwaches Gedächtnis spekulieren. Sie sind es, die wir stoppen müssen, so lange es noch Zeit ist. Die Toten, an deren Ehrenmal wir hier stehen, mahnen uns. Die Waffen nieder! Frieden mit Russland!
Ich danke Ihnen.