Ein Bericht über den Jah­res­auf­takt 2021 der DKP Grup­pe Neuss/​Dormagen.

Aus­ge­wähl­te Text von Rosa Luxemburg

Jetzt ist es ein Jahr, dass Karl in Luckau sitzt. Ich habe in die­sem Monat oft dar­an gedacht, und genau vor einem Jahr waren Sie bei mir in Wron­ke, haben mir den schö­nen Weih­nachts­baum beschert … Heu­er habe ich mir hier einen besor­gen las­sen, aber man brach­te mir einen ganz schä­bi­gen, mit feh­len­den Ästen – kein Ver­gleich mit dem vor­jäh­ri­gen. Ich weiß nicht, wie ich dar­auf die acht Licht­lein anbrin­ge, die ich erstan­den habe. Es ist mein drit­tes Weih­nach­ten im Kitt­chen, aber neh­men Sie es ja nicht tra­gisch. Ich bin so ruhig und hei­ter wie immer. Ges­tern lag ich lan­ge wach – ich kann jetzt nie vor ein Uhr ein­schla­fen, muss aber schon um zehn ins Bett – dann träu­me ich ver­schie­de­nes im Dun­keln. Ges­tern dach­te ich also: Wie merk­wür­dig das ist, dass ich stän­dig in einem freu­di­gen Rausch lebe – ohne jeden beson­de­ren Grund. So lie­ge ich zum Bei­spiel hier in der dunk­len Zel­le auf einer stein­har­ten Matrat­ze, um mich im Hau­se herrscht die übli­che Kirch­hof­stil­le, man kommt sich vor wie im Gra­be; vom Fens­ter her zeich­net sich auf der Decke der Reflex der Later­ne, die hier dem Gefäng­nis die gan­ze Nacht brennt. Von Zeit zu Zeit hört man nur ganz dumpf das fer­ne Rat­tern eines vor­bei­ge­hen­den Eisen­bahn­zu­ges oder ganz in der Nähe unter den Fens­tern des Räus­perns der Schild­wa­che, die in ihren schwe­ren Stie­feln ein paar Schrit­te lang­sam macht, um die stei­fen Bei­ne zu bewe­gen. Der Sand knirscht so hoff­nungs­los unter die­sen Schrit­ten, daß die gan­ze Öde und Aus­weg­lo­sig­keit des Daseins dar­aus klingt in die feuch­te dunk­le Nacht. Da lie­ge ich still allein, gewi­ckelt in die­se viel­fa­chen schwar­zen Tücher der Fins­ter­nis, Lan­ge­wei­le, Unfrei­heit des Win­ters – und dabei klopft mein Herz von einer unbe­greif­li­chen, unbe­kann­ten inne­ren Freu­de, wie wenn ich im strah­len­den Son­nen­schein über eine blü­hen­de Wie­se gehen wür­de. Und ich läch­le im Dun­keln dem Leben, wie wenn ich irgend­ein zau­ber­haf­tes Geheim­nis wüß­te, das alles Böse und Trau­ri­ge Lügen straft und in lau­ter Hel­lig­keit und Glück wan­delt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu die­ser Freu­de, fin­de nichts und muß wie­der lächeln über mich selbst. Ich glau­be, das Geheim­nis ist nichts ande­res als das Leben selbst; die tie­fe nächt­li­che Fins­ter­nis ist so schön und weich wie Sam­met, wenn man nur rich­tig schaut. Und in dem Knir­schen des feuch­ten San­des unter den lang­sa­men schwe­ren Schrit­ten der Schild­wa­che singt auch ein klei­nes schö­nes Lied vom Leben – wenn man nur rich­tig zu hören weiß. In sol­chen Augen­bli­cken den­ke ich an Sie und möch­te Ihnen so gern die­sen Zau­ber­schlüs­sel mit­tei­len, damit Sie immer und in allen Lagen das Schö­ne und Freu­di­ge des Lebens wahr­neh­men, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine bun­te Wie­se gehen. Ich den­ke ja nicht dar­an, Sie mit Aske­ten­tum, mit ein­ge­bil­de­ten Freu­den abzu­spei­sen. Ich gön­ne Ihnen alle reel­len Sin­nes­freu­den. Ich möch­te Ihnen nur noch dazu mei­ne uner­schöpf­li­che inne­re Hei­ter­keit geben, damit ich um Sie ruhig bin, dass Sie in einem stern­be­stick­ten Man­tel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Klei­nen, Tri­via­len und Beängs­ti­gen­dem schützt.

Des Erlö­sers Geburt

Mehr als neun­zehn Jahr­hun­der­te sind ver­flos­sen, seit die gläu­bi­ge Mensch­heit die Geburt des Zim­mer­manns­soh­nes aus Naza­reth fei­ert, der dem Men­schen­ge­schlech­te als Erlö­ser ver­kün­det ward. In einer furcht­ba­ren Zeit der Zer­set­zung des alten Römer­rei­ches, da Mil­lio­nen in aus­weg­lo­sem Elend, in Skla­ve­rei und Ernied­ri­gung ver­san­ken, in die­ser düs­te­ren sozia­len Nacht ging die Mor­gen­rö­te der christ­li­chen Erlö­sung auf, von den Elen­den und Ent­erb­ten mit from­mem Glau­ben und jauch­zen­der Hoff­nung begrüßt. Und heu­te wie­der, wie seit bald zwei­tau­send Jah­ren wer­den die Glo­cken von unzäh­li­gen Kirch­tür­men in unzäh­li­gen Städ­ten und Dör­fern mit eher­ner Zun­ge die Wie­der­kehr jenes freu­di­gen Tages prei­sen, in hohen Paläs­ten und nied­ri­gen Hüt­ten wer­den Tan­nen­bäu­me im Ker­zen­licht und Flit­ter­schmuck erglän­zen zur freu­di­gen Fei­er der Geburt des Erlösers.

Doch wo ist die Erlö­sung geblie­ben? Dar­ben nicht heu­te Mil­lio­nen in täg­li­cher Pein, wie vor Jahr­tau­sen­den? Und wer­den sie nicht wie damals von den Rei­chen mit Füßen getre­ten, die doch schwe­rer in das Him­mel­reich kom­men soll­ten, denn ein Kamel das Nadel­öhr passieren?

Es ist nichts als eine pfäf­fi­sche Lüge, wenn dem Vol­ke ein­ge­re­det wird, das Chris­ten­tum habe eine see­li­sche und nicht eine leib­li­che Erlö­sung ver­hei­ßen und voll­bracht, das Reich Jesus sei nicht von die­ser Welt. Nichts als ein unbe­stimm­ter Wunsch auf die Glück­se­lig­kei­ten des Jen­seits, son­dern als ein Evan­ge­li­um der Erlö­sung von dem mate­ri­el­len Elend, der sozia­len Ungleich­heit und der sozia­len Unge­rech­tig­keit hie­nie­den auf Erden ward die christ­li­che Leh­re gepre­digt und auf­ge­nom­men. Die Erlö­sung von den unge­heu­er­li­chen Fol­ge­er­schei­nun­gen der Klas­sen­herr­schaft, von gesell­schaft­li­chen Kon­tras­ten, von täg­li­cher Not, von Bedrü­ckung des Men­schen durch den Men­schen, der Volks­mas­se durch eine Hand­voll Mäch­ti­ger – das war das Evan­ge­li­um der ers­ten Apos­tel des Chris­ten­tums und das war es, was ihnen die Anhän­ger und die Gläu­bi­gen in hel­len Scha­ren zuführ­te. So irdisch, so rea­lis­tisch, so sinn­lich war die­se Erlö­sung gemeint, dass die ers­ten Chris­ten sofort an die Wur­zel des sozia­len Übels, an die Eigen­tums­ver­hält­nis­se die Axt mit wuch­ti­gem Hie­be anleg­ten. Das Evan­ge­li­um der christ­li­chen Erlö­sung war ein durch Jahr­hun­der­te hal­len­der schmet­tern­der Trom­pe­ten­ruf zum Krie­ge wider die Rei­chen und das Pri­vat­ei­gen­tum. «Ihr Elen­den», rief der hei­li­ge Basi­li­us im vier­ten Jahr­hun­dert den Rei­chen zu, «wie wollt Ihr Euch vor dem ewi­gen Rich­ter ver­ant­wor­ten? Ihr erwi­dert uns: Wie habe ich unrecht, da ich nur für mich behal­te, was mir gehört? Ich aber fra­ge Euch: Was nennt Ihr Euer Eigen­tum? Von wem habt Ihr es erhal­ten? Wodurch wer­den die Rei­chen reich, als durch die Besitz­nah­me von Din­gen, die allen gehö­ren? Wenn jeder für sich nicht mehr näh­me, als er zu sei­ner Erhal­tung braucht, und den Rest den ande­ren lie­ße, dann gäbe es weder Rei­che noch Arme.» Und zwei Jahr­hun­der­te spä­ter don­ner­te noch ein ande­rer wacke­rer Got­tes­strei­ter, Gre­gor der Gro­ße: «Es genügt nicht, dass man ande­ren ihr Eigen­tum nicht nimmt, man ist nicht schuld­los, solan­ge man Güter sich vor­be­hält, die Gott für alle geschaf­fen hat. Wer den ande­ren nicht gibt, was er hat, ist ein Tot­schlä­ger und Mör­der, denn da er für sich behält, was zur Erhal­tung der Armen gedient hät­te, kann man sagen, dass er tag­aus, tag­ein so vie­le erschlägt, als von sei­nem Über­fluss leben konn­ten.» Die­se schnei­den­de Spra­che führ­ten die Jün­ger Jesu wider die sozia­le Ungleich­heit der Men­schen und mit sol­chen rein irdi­schen Argu­men­ten führ­ten sie die Sache der Ent­erb­ten, die zu erlö­sen der gro­ße Naza­re­ner sei­ne Schu­le stiftete.

Allein, die mate­ri­el­len Ver­hält­nis­se erwie­sen sich stär­ker als die feu­rigs­te Rede der christ­li­chen Apos­tel. Die Wor­te eines Chr­iso­s­to­mus, des Man­nes mit dem gol­de­nen Mun­de, die Don­ner­stim­me des gro­ßen Gre­gors ver­hall­ten wie die Stim­me des Rufers in der Wüs­te. Der Strom der geschicht­li­chen Ent­wick­lung, dem das christ­li­che Evan­ge­li­um des Kom­mu­nis­mus und der Abschaf­fung des Reich­tums eine Zeit­lang zu trot­zen ver­such­te, riss das küh­ne Boot der Welt­erlö­ser mit, kehr­te es um und zwang es, mit dem Gang der Ver­hält­nis­se zu schwim­men. Die Klas­sen­ge­sell­schaft hat die zu ihrer Ver­nich­tung ver­kün­de­te Leh­re in ihren eige­nen Dienst gespannt, die Erlö­se­rin – Kir­che wur­de zu einem neu­en Pfei­ler der jahr­tau­sen­de alten Skla­ve­rei der Volks­mas­sen. Aus dem Evan­ge­li­um der sozia­len Gerech­tig­keit haben die herr­schen­den Klas­sen und ihre Die­ner, die Kir­chen­die­ner, ein Evan­ge­li­um der Barm­her­zig­keit, aus der Reli­gi­on Frei­er und Glei­cher eine Reli­gi­on der Bett­ler und der Aus­sät­zi­gen gemacht, aus der irdi­schen sozia­len Erlö­sung von Hun­ger, Not und Ernied­ri­gung – ein Wol­ken­ku­ckucks­heim der «See­len­er­lö­sung» nach dem Tode. Die­ser unbarm­her­zi­ge Pro­zess der his­to­ri­schen Umschmel­zung der christ­li­chen Erlö­sungs­leh­re dau­ert bis auf unse­re Tage fort.

Auch wir fei­ern die Ankunft des Erlö­sers, des wah­ren Erlö­sers der Mensch­heit. In jeder ver­fal­len­den Gesell­schaft, in der die auf­stre­ben­de, unter­drück­te Klas­se durch ihren Kampf neue Bah­nen der Ent­wick­lung nicht aus­zu­hau­en ver­mag, da taucht der Glau­be an einen wun­der­tä­ti­gen Erlö­ser auf, die ermü­de­te, ver­zwei­fel­te Mensch­heit klam­mert sich an die Dar­stel­lung einer mäch­ti­gen, ret­ten­den Per­sön­lich­keit, die durch ihre Wun­der­wir­kung alle erlö­sen wird. Das alte Volk der Hebrä­er erwar­te­te sei­ne Befrei­ung aus der ägyp­ti­schen Skla­ve­rei von Mose, in dem ver­fal­len­den Rom steht Chris­tus als Erlö­ser auf, in den Anfän­gen der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft, bevor noch das moder­ne Pro­le­ta­ri­at auf die geschicht­li­che Büh­ne trat, such­te ein Fou­rier lan­ge den Mäch­ti­gen und Rei­chen, der ihm hel­fen soll­te, sei­nen Erlö­sungs­plan für die Mensch­heit zu verwirklichen.

Uns hat der Erlö­ser Sozia­lis­mus den star­ken Ham­mer des Klas­sen­kamp­fes und der Erkennt­nis in die Hän­de gedrückt und zuge­ru­fen: Erlö­set euch selbst! Die Selbst­er­lö­sung der Mensch­heit durch den Kampf des klas­sen­be­wuss­ten Pro­le­ta­ri­ats, die Erlö­sung der Mas­se nicht durch einen wun­der­tä­ti­gen Erlö­ser, son­dern durch die Mas­se selbst, – das ist der erlö­sen­de Gedan­ke des Sozia­lis­mus, dass unser Erlösungsevangelium.

Auch wir fei­ern unser Weih­nachts­fest, auch wir ste­cken Lich­ter auf unse­ren Weih­nachts­baum, auch unter uns ist heut’ Freu­de, und Hoff­nung und Glau­be zie­hen in unse­re Her­zen. Denn unse­re Erlö­sung voll­zieht sich schon mit jedem Tage, mit jeder Stun­de. Hört Ihr vom Osten das Stim­men­ge­wirr und den Lärm des Kamp­fes? Dort bre­chen bereits unse­re Brü­der ihre schwers­ten Ket­ten, die Selbst­er­lö­sung der Mas­se beginnt, der zün­den­de Blitz der sozia­lis­ti­schen Erkennt­nis hat bereits die alte Fins­ter­nis erhellt, der star­ke Ham­mer des Klas­sen­kamp­fes wird geschwun­gen, das Volk wird zu Schmie­de des eige­nen Schicksals.

Swant­je und Erik Höhne