Unrechts­staat DDR?


Aus dem gege­be­nen Anlass will ich heu­te ein paar Gedan­ken zur Pro­ble­ma­tik „Unrechts­staat DDR“ äußern, in der ich 40 Jah­re gelebt habe.


In der UZ v. 13. März 2020 schrieb Arnold  Schöt­zel über das „Rame­low-Modell“ und ver­wies dar­auf, dass Rame­low im Zusam­men­hang mit sei­ner Wie­der­wahl als Minis­ter­prä­si­dent von Thü­rin­gen über das „tota­li­tä­re Sys­tem der DDR, das kei­ne Luft zum Atmen gelas­sen habe“ schwa­dro­niert habe.

Ich  über­le­ge, ob ich mich als „medi­zi­ni­sches Wun­der“ mel­den soll, da es mir gelun­gen ist, 40 Jah­re in der DDR „ohne „Luft zum Atmen“ zu leben.

Rame­low setzt das fort, was er schon in Gestalt sei­nes Bekennt­nis­ses im sei­ner­zei­ti­gen Koali­ti­ons­ver­trag getan hat, näm­lich die DDR als „Unrechts­staat“ zu ver­leum­den, und dass man die „SED-Dik­ta­tur auf­ar­bei­ten müsse“.

Die­se Posi­ti­on eines füh­ren­den, und in der Par­tei DIE LIN­KE hoch aner­kann­ten Mit­glie­des war für mich der letz­te Anlass, die­se Par­tei nach fast 50 – jäh­ri­ger Mit­glied­schaft in SED, PDS und LIN­KE zu verlassen.

Ich konn­te und woll­te die Abkehr die­ser Par­tei zuerst von Lenin, dann auch von Marx und Engels, den unsäg­li­chen Plu­ra­lis­mus,  und die Ver­leum­dung der DDR, der ich mich zutiefst ver­bun­den fühl­te und füh­le, nicht mehr durch wei­te­re Mit­glied­schaft tolerieren.

Aus dem gege­be­nen Anlass will ich heu­te ein paar Gedan­ken zur Pro­ble­ma­tik „Unrechts­staat DDR“ äußern.

Ein­gangs sei dar­auf ver­wie­sen, dass es in der rechts­wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur, und, wie selbst der wis­sen­schaft­li­che Dienst des Bun­des­ta­ges wie­der­holt erklärt hat, kei­ne Defi­ni­ti­on gibt, was ein „Unrechts­staat“ eigent­lich ist.

Gre­gor Gysi hat in sei­nem oft ver­klau­su­lier­ten Advo­ka­ten-deutsch ein­mal gesagt: „Die DDR war kein Unrechts­staat, aber sie war auch kein Rechtsstaat.

Ein „Rechts­staat“ als kon­kret orga­ni­sier­te Macht­aus­übung der herr­schen Klas­se des Mono­pol­ka­pi­tals, wie in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, war die DDR tat­säch­lich nicht, aber um die­se klas­sen­mä­ßi­ge Ein­schät­zung ging es Gysi auch nicht.  Von Lenin: Staat und Revo­lu­ti­on hat er wohl nie etwas gehalten.

Ich war von 1958 bis 1963 Staats­an­walt in die­sem „Unrechts­staat“ und von 1995 bis 2000 nach einem gewon­ne­nen Berufs­ver­bots­pro­zess zuge­las­se­ner Rechts­an­walt, und arbei­te noch heu­te in mei­ner ehe­ma­li­gen Kanz­lei in Form von Rechts­gut­ach­ten und Schrift­sät­zen, vor allem in Rechts­strei­ten von Mie­tern mit, (Ver­mie­ter haben wir nie ver­tre­ten), und kann mir, auch aus dem Ver­gleich ein Urteil über Recht unter Bedin­gun­gen der begin­nen­den sozia­lis­ti­schen Ent­wick­lung und im heu­ti­gen Kapi­ta­lis­mus erlauben.

Das beginnt schon bei der  Gesetz­ge­bung, dazu nur weni­ge Beispiele:

Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land hat bis heu­te kei­ne Ver­fas­sung, son­dern ein „Grund­ge­setz“, das
von vorn­her­ein nur ein Pro­vi­so­ri­um sein sollte.

Die DDR hat­te eine nach umfas­sen­der Dis­kus­si­on unter der gesam­ten Bevöl­ke­rung durch Volks­ent­scheid ange­nom­me­ne Verfassung.

Die DDR hat­te ein sehr gutes Arbeits­ge­setz­buch. In der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land gibt es ein sol­ches bis heu­te nicht, alle dies­be­züg­li­chen Ver­su­che sind an kon­kur­rie­ren­den Inter­es­sen der ein­zel­nen For­ma­tio­nen des herr­schen­den Mono­pol­ka­pi­tals gescheitert.

In Arbeits­rechts­strei­tig­kei­ten wird vie­les durch „Rich­ter­recht“ ent­schie­den,  je nach poli­ti­schem Stand­punkt des Rich­ters, der sei­nem „poli­ti­schen Gewis­sen“ folgt.

Bis 1975 galt auch in der DDR noch das am 01.01.1900 in Kraft getre­te­ne Bür­ger­li­che Gesetz­buch, wobei mit Grün­dung der DDR alle aus­schließ­lich kapi­ta­lis­ti­schen Inter­es­sen die­nen­den und vor allem die gegen die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau gerich­te­ten Vor­schrif­ten für das Ter­ri­to­ri­um der DDR auf­ge­ho­ben wurden.

Bei uns brauch­te eine Ehe­frau von Anfang an nie die Zustim­mung des Man­nes, wenn sie eine Arbeit auf­neh­men, oder ein Kon­to eröff­nen woll­te, wie das noch lan­ge Jah­re in der BRD gel­ten­des Recht war.

Von beson­de­rer Bedeu­tung war die Auf­he­bung des § 218 des Straf­ge­setz­bu­ches aus der Kai­ser­zeit, der in der BRD noch lan­ge galt. Das Gesetz über die Schwan­ger­schafts­un­ter­bre­chung war das ein­zi­ge Gesetz der Volks­kam­mer, das nicht ein­stim­mig ange­nom­men wur­de, es gab 14 Gegen-stim­men und 8 Ent­hal­tun­gen. Das gehört auch zu dem „Unrechts­staat“.

Was die Rich­ter­schaft betrifft, war kein Berufs­rich­ter Rich­ter auf Lebens­zeit, son­dern alle wur­den durch die Volks­ver­tre­tun­gen jeweils für die Legis­la­tur­pe­ri­ode der Volks­ver­tre­tung gewählt, und konn­ten auch abbe­ru­fen werden.

Für den „Unrechts­staat DDR“ war cha­rak­te­ris­tisch, dass in allen Ver­fah­ren, Straf­recht, Zivil­recht, Fami­li­en­recht, Arbeits­recht  neben dem Berufs­rich­ter zwei gleich­be­rech­tig­te ehren­amt­li­che Rich­ter (Schöf­fen) tätig wurden.

Das war im Gesetz so fest­ge­legt, um zu gewähr­leis­ten, dass Leu­te aus dem täg­li­chen Leben ihre Erfah­run­gen in das Ver­fah­ren ein­brin­gen konnten.

Auch die­se Schöf­fen waren von der Bevöl­ke­rung gewählt und wur­den 1 – 2 x im Jahr in mehr­wö­chi­gen Sit­zungs­pe­ri­oden herangezogen.

Die Schöf­fen waren gleich­be­rech­tigt, und konn­ten sogar den Berufs­rich­ter überstimmen.

Fol­gen­de inter­es­san­te Sache: Ich habe 1997 vor dem Land­ge­richt Neu­bran­den­burg eine ehe­ma­li­ge Rich­te­rin des Bezirks­ge­richts Neu­bran­den­burg ver­tei­digt, die wegen Rechts­beu­gung ange­klagt war. Das Ver­fah­ren wur­de gegen 3 Rich­te­rin­nen, einen ehe­ma­li­gen Kreis­ge­richts­di­rek­tor,  und einen Staats­an­walt durch­ge­führt.

Alle, außer dem Kreis­ge­richts­di­rek­tor, wur­den durch eine, eigens aus den alten Bun­des­län­dern ein­ge­flo­ge­ne Rich­te­rin ver­ur­teilt. Auf unse­re Revi­si­on hat der BGH das Urteil auf­ge­ho­ben und sie wur­den frei­ge­spro­chen.

Den Kreis­ge­richts­di­rek­tor konn­te die Dame nicht ver­ur­tei­len, weil sie nicht nach­wei­sen konn­te, wie die gehei­me Abstim­mung zwi­schen dem Berufs­rich­ter und den bei­den Schöf­fen gelau­fen war.

Sie woll­te die bei­den Schöf­fen als Zeu­gen vor­la­den, aber die waren inzwi­schen bei­de ver­stor­ben, und der Kreis­ge­richts­di­rek­tor hat natür­lich erklärt, dass die gehei­me Bera­tung über das Urteil, das nach Mei­nung der Rich­te­rin ein Unrechts­ur­teil war (es ging um eine Stra­fe wegen Tier­quä­le­rei und Ver­bin­dungs­auf­nah­me zur west­deut­schen Stän­di­gen Ver­tre­tung mit 6 Mona­ten Frei­heits­ent­zug) sei­ner gesetz­li­chen Schwei­ge­pflicht unter­lag.

In dem „Unrechts­staat DDR“ wur­de jedes Urteil inner­halb eines Jah­res durch dafür ein­ge­setz­te Rich­ter des Obers­ten Gerichts der DDR  über­prüft, und wenn fest­ge­stellt wur­de, dass das
Recht ver­letzt war, wur­de das Urteil kas­siert. Eine sol­che, der Rechts­si­cher­heit die­nen­de Rege­lung hat es in der BRD nie gegeben.

Ich habe mich als Rechts­an­walt erst dar­an gewöh­nen müs­sen, es vor den Amts­ge­rich­ten und oft auch bei Land­ge­rich­ten nur mit einem Berufs­rich­ter zu tun zu haben.

Was in der BRD Urtei­le in Zivil­sa­chen betrifft, ist Beru­fung nach § 511 der Zivil­pro­zess­ord­nung gegen ein Urteil des Amts­ge­richts nur zuläs­sig, wenn der Beschwer­de­ge­gen­stand 600,00 EUR übersteigt.

Wir hat­ten und haben eine gan­ze Anzahl von Ver­fah­ren, wo es um Betriebs­kos­ten­ab­rech­nun­gen geht. Eine Nach­zah­lung bis 600,00 EUR ist für Mie­ter viel Geld.

Aber ein Urteil in einer sol­chen Sache ist nicht beru­fungs­fä­hig, und wie es aus­fällt, hängt in hohem Maße davon ab, ob es sich um einen Ver­mie­ter- oder Mie­ter­freund­li­chen Rich­ter handelt.

Wir haben im Land­ge­richts­be­zirk Neu­bran­den­burg Ver­tre­ter bei­der Kate­go­rien, so dass wir uns oft schon vor­her dar­auf ein­stel­len kön­nen, wie das Urteil aus­fällt.

Ich hat­te zu völ­lig glei­chen Sach­ver­hal­ten ent­ge­gen­ge­setz­te Urtei­le z.B der Amts­ge­rich­te Pase­walk und Dem­min, in Dem­min den Pro­zess gewon­nen, in Pase­walk verloren.

Ich habe in Ver­hand­lun­gen zu nicht beru­fungs­fä­hi­gen Sachen wie­der­holt von Rich­tern sagen gehört: „Über mir ist nichts mehr als blau­er Him­mel“.

Bei uns stand in allen Straf­sa­chen der Erzie­hungs­ge­dan­ke im Vor­der­grund. Dazu gehör­te, dass Ver­fah­ren mög­lichst zügig abge­schlos­sen wur­den. Es gab kei­ne Fäl­le, wo es Jah­re dau­er­te,  bis  über­haupt ein Gerichts­ver­fah­ren statt­fand, wie das heu­te sehr oft der Fall ist.

Die Vor­un­ter­su­chung fand unter Auf­sicht des Staats­an­walts durch die Kri­mi­nal­po­li­zei statt. Die­se hat­te von der Ein­lei­tung des Ermitt­lungs­ver­fah­rens bis zu sei­nem Abschluss 2 Wochen Zeit. Wenn sie die­se Frist nicht ein­hal­ten konn­te, muss­te der Lei­ter der Abt. K beim Staats­an­walt Frist­ver­län­ge­rung beantragen.

Wenn die Ermitt­lungs­ak­te beim Staats­an­walt ein­ging, hat­te die­ser 1 Woche Frist zur Prü­fung und Ankla­ge­er­he­bung. Wenn er das nicht schaff­te, muss­te er beim Bezirks­staats­an­walt Frist­ver­län­ge­rung beantragen.

Vom Gericht muss­te inner­halb von 4 Wochen nach Ein­gang der Ankla­ge­schrift des Staats­an­walts die Haupt­ver­hand­lung ange­setzt werden.

Und noch etwas: Wenn für einen zu einer Frei­heits­stra­fe Ver­ur­teil­ten der Ent­las­sungs­ter­min her­an­rück­te, muss­te geklärt wer­den: Wo wird er Arbeit fin­den, und wo wird ihm Wohn­raum zur Ver­fü­gung gestellt. Das muss­te alles durch den Rat des Krei­ses, Abt. Inne­re Ange­le­gen­hei­ten orga­ni­siert werden.

Leu­te, die oft lan­ge war­ten muss­ten, bis sie eine Woh­nung bekom­men konn­ten, haben oft sar­kas­tisch bemerkt: „Man muss erst in den Knast gewe­sen sein, dann bekommt man auch eine Wohnung“.

Ich will es bei die­sen Schil­de­run­gen, wie das im „Unrechts­staat DDR war, aus eige­nen Erfah­run­gen bewen­den lassen.

Natür­lich hat es auch in unse­rer Arbeit in der Jus­tiz Feh­ler gege­ben, und ins­be­son­de­re in den ers­ten Jah­ren der DDR auch über­spitz­te Urtei­le gege­ben. Nur ein Beispiel:

Das Gesetz zum Schut­ze des Volks­ei­gen­tums sah bei Dieb­stahl von Volks­ei­gen­tum eine Min­dest­stra­fe von 1 Jahr Zucht­haus vor.

Das wur­de dann aber schnell kor­ri­giert, und ich habe das nicht mehr erle­ben und mit anwen­den müssen.

Ich habe mei­nem Beruf als  Staats­an­walt gern aus­ge­übt, auch wenn ich weni­ger ver­dien­te, als ein guter Fach­ar­bei­ter in der Indus­trie. Ich habe sei­ner­zeit oft gesagt: „Rechts­an­walt – ich nie“.‘‘

Nach 1990 habe ich gesagt: „Staats­an­walt in die­sem Sys­tem – nie“.

Dr. jur. Ernst Albrecht